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Herr Möslein ist tot (German Edition)

Herr Möslein ist tot (German Edition)

Titel: Herr Möslein ist tot (German Edition)
Autoren: Tatjana Meissner
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Alt wie ein Baum
    Der Klingelton brüllt in die gemütliche Stille meiner Wohnküche wie die Nachbarsgören, wenn sie früh um sieben den direkt an meine Küche grenzenden Hausflur betreten und kreischend die Treppe hinunterpoltern. Ich kann hohe Stimmen und Töne immer schlechter vertragen. Darum greife ich hektisch nach dem vor mir auf dem Küchentisch liegenden Handy, drücke den Ton weg und lese die eingetroffene SMS :»Wenn jemand auf die Idee kommt, Dich alt zu nennen, dann schlag ihn mit Deinem Stock und wirf ihm Dein Gebiss hinterher. Happy Birthday! Deine Schwester Alu«.
    Eine Unverschämtheit. Meine Schwester Alu ist entweder komplett verschusselt oder blind. Sie hätte ihre Brille aufsetzen sollen, bevor sie auf die Uhr guckt. Es ist 23.50 Uhr! Ich bin noch nicht alt. Erst in zehn Minuten habe ich Geburtstag.
    Ich werde meinen 50. Geburtstag nicht feiern. Nein, weder Kumpel Ronny noch Gisi und Rudi und erst recht nicht allen anderen langjährigen Freunden werde ich erlauben, sich im Rahmen einer von mir finanzierten Party darüber zu amüsieren, dass sie mir ein goldenes, mit einer Fünfzig versehenes Kränzchen aufs Haupthaar drücken und mich in ihren UHU (Unter-Hundert)-Club aufnehmen, um sich dann mit Hochprozentigem in Stimmung zu trinken, sich über ihre Krankheiten auszutauschen und die Hits der Achtziger mitzugrölen.
    Nee, das will ich nicht! Aber ein kuscheliges Reinfeiern mit meinem Carsten und einem Gläschen Prosecco hätte ich mir schon gewünscht. Stattdessen sitze ich vor dem in den Gläsern phlegmatisch blubberndem Geburtstagsgetränk auf dem Sofa, eingezwängt zwischen Carsten und meiner alten Hauskatze, die beide schnorchelnde Töne von sich geben. Rechts von mir hat sich der Stubentiger breitgemacht. Chica sieht aus wie ein plüschiges rostrot-weißes Bärenfell mit Kopf, verziert mit Rotznase und raushängender Zunge, was ziemlich debil wirkt. Carsten sieht bedeutend besser aus. Mein Traummann hat braunes lockiges Haar, eine für einen Mann ziemlich kleine Nase – was aber überhaupt nichts zu bedeuten hat – und graugrüne Augen. Außerdem ist er so groß und schlank, dass der preußische Soldatenkönig ihn für seine Langen Kerls auserwählt hätte. Es schnorchelt und grunzt so laut um mich herum, dass ich überlege, ob ich weiterhin unter Aufbietung großer Hör-Konzentration versuche, Markus Lanz und seine Gäste sequenzweise zu verstehen, oder ob ich lauter stellen sollte, um auch wirklich nichts von den hochspannenden Themen zu verpassen, die die Elite deutscher Comedians gerade, getarnt als launigen Talk, auswendig aufsagt. Lass ich den Ton leise, ärgere ich mich über mein nachlassendes Hörvermögen; mache ich laut, ärgere ich mich über Carsten. Im Gegensatz zu mir hasst er Boulevardmagazine, Liebesfilme und Markus Lanz. Im Falle seines Erwachens, würde Carsten sofort nach der Fernbedienung greifen und umschalten. Trotzdem ist Carsten mein Traummann. Wirklich der allerbeste der Männer, mit denen ich je zusammengelebt habe. Bei allen anderen meiner LABV , also Lebensabschnittsbevollmächtigten, hatte ich mich aus jugendlichem Übermut, elterlichen Moralvorstellungen und eigener Unsicherheit immer ein wenig vergriffen. Mit Heinz blieb ich zu lange zusammen, weil er Humor hatte und ich schwanger wurde; mit Ingo wegen der Hormone und seiner infantilen Leichtlebigkeit und mit Flo wegen seines jungenhaften Charmes und meines festen Glaubens, dass ich nur einen Schalter finden müsste, um ihn nach meinen Wünschen zu formen.
    Ich habe es früher nicht besser gewusst. War jung, unerfahren und gierig. Erst nach vier Jahrzehnten und ebenso vielen Beziehungsversuchen haben die abflauenden Hormone in meinem Kopf klareren Denkstrukturen Platz gemacht. Eine kluge Frau namens Marie von Ebner-Eschenbach hat einmal gesagt: »Alt werden heißt sehend werden.« Bei mir war das so. Ich musste erst alt werden, um meinen Traummann zu finden. Aber warum? Warum muss man erst alt werden, um wirklich glücklich sein zu können? Wissenschaftler erfanden in den letzten Jahren Unglaubliches: Systeme, die uns mit Lichtgeschwindigkeit weltweit kommunizieren und den passenden Partner finden lassen; Operationsmethoden und Medikamente, die dafür sorgen, dass unser Äußeres in Änderungsfleischereien in jugendlicher Erstarrung konserviert und unsere Lebenserwartung fast verdoppelt wird. Aber niemand erfand ein Rezept gegen die ewig gleichen Fehler in zwischenmenschlichen Beziehungen. Warum musste ich
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