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Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Titel: Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Autoren: Peter May
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bestimmt, sondern für Sie.»

Kapitel sechs
    Enzo lief wie in Trance durch die Stadt. Ein wandelnder Toter. Straßen und Gebäude wirkten geisterhaft, nicht real, als befände er sich bereits in einer anderen Welt. Als sei er schon zu jenem anderen Ort unterwegs.
    Im Kopf jedenfalls hatte er die Reise längst angetreten.
    Auf den Straßen tummelten sich Gespenster. Einige davon schienen ihm vertraut, manche sagten sogar «Bonjour» wie zu einem Bekannten. Dabei kannte ihn niemand mehr. Niemand würde ihn je wieder kennen. Er ging an der Kathedrale oberhalb des Platzes vorbei und hatte das Gefühl, als wehte ihm durch die geöffnete Tür ein kalter Atem entgegen. Er hatte nicht das Bedürfnis, einzutreten, sich hinzuknien und zum Gott anderer Menschen zu beten.
    Seine Mutter war eine gute italienische Katholikin gewesen, hatte ihn jedoch in einem protestantischen Land großgezogen, noch dazu in einer Stadt, in der sich religiöser Hass beim Fußball entlud. Damals hatte er das alles weit von sich gewiesen, fragte sich nun jedoch, ob ihm irgendeine Form von Glauben jetzt nicht Trost gespendet hätte. Er hegte seine Zweifel.
    Als er an La Halle und dem Café Forum an der Ecke vorbeikam, rief ihn jemand beim Namen. Er kannte die Stimme, blieb jedoch nicht stehen. Er hatte keine Ahnung, ob er Sophie zu Hause antreffen würde oder ob sie um diese Zeit im Fitnesscenter trainierte. Falls sie in der Wohnung war, konnte er ihr nicht unter die Augen treten. Noch nicht. Er war nicht sicher, ob er je den Mut dazu aufbringen würde. Wie konnte er ihr sagen, dass sie, nachdem sie ihr Leben lang ohne Mutter hatte auskommen müssen, bald auch noch den Vater verlieren würde? Ihr Kummer wäre nicht zu ertragen, noch weniger als sein Selbstmitleid. Schließlich würde sie mit dem Schmerz weiterleben müssen. Sein eigenes Leben hingegen wäre in drei kurzen Monaten vorbei.
    Er holte seinen Wagen – eine liebevoll instandgesetzte Ente mit dem Rolldach und der weichen Federung – aus der Garage und fuhr Richtung Süden aus der Stadt. Nachdem er den Pont Louis Philippe überquert hatte, bog er hinter der Statue der Heiligen Jungfrau links ab und folgte der langen Straße den Berg hinauf.
    Der Mont St. Cyr trug einen irreführenden Namen, denn es handelte sich dabei nicht wirklich um einen mont , einen Berg, sondern allenfalls um einen hohen Hügel. Doch von seiner Kuppe aus eröffnete sich ein wundervoller Blick auf die Stadt und die weitläufige Schleife des Lot, in die sie eingebettet war, auf den Pont Valentré und weiter bis zum Viadukt, auf dem die RN20 Richtung Süden nach Toulouse die tiefe Schlucht des Flusses überquerte. Im Sommer lockte die spektakuläre Vogelperspektive auf diese prächtige Kulisse scharenweise Touristen an, die durch die Münzferngläser spähten oder Fotos schossen. An diesem kalten, nebligen Novembertag jedoch war der Ort verlassen – genau wie damals vor über zwanzig Jahren, als Enzo in der Nacht, in der Pascale gestorben war und ihn mit ihrer neugeborenen Tochter zurückgelassen hatte, zum ersten Mal hierhergekommen war.
    Er stieg die paar Stufen zu der Bank hinunter, auf der er in jener Nacht gesessen und sich gefragt hatte, woher er den Mut zum Weiterleben nehmen sollte. Jetzt fragte er sich, woher er den Mut zum Sterben nehmen sollte. Nicht das Sterben an sich war das Problem. Alle mussten irgendwann sterben, und jedem war das sehr wohl bewusst, doch normalerweise kannte man den Zeitpunkt nicht. Das war der springende Punkt. Er dachte an seine Kindheit in Glasgow. Er musste vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, als jemand starb. Sein Großvater vielleicht. Und zum ersten Mal hatte es ihm gedämmert, dass auch er eines Tages sterben würde. Er hatte auf der Bettkante gesessen und eine Weile darüber nachgedacht, bis er zu der Erkenntnis kam, dass der Tod für ihn in weiter Ferne lag und er sich am besten keine Gedanken darüber machte, bis es so weit war. In den einundfünfzig Jahren seines Lebens war er damit meist ganz gut zurechtgekommen. Nur dass ihm jetzt jemand mit einem Schlag vor Augen führte, dass dieser Zeitpunkt kurz bevorstand. Verflucht, er hätte morgen auch einfach bei einem Verkehrsunfall sterben können. Mit dem Unterschied, dass er es dann erst gemerkt hätte, wenn es so weit war – oder überhaupt nichts mehr mitbekommen hätte. Hilflos zuzusehen, wie einem die letzten kostbaren Wochen und Tage wie Sand durch die Finger rannen, war die pure Folter.
    Dann kam ihm Kirsty in
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