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Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Titel: Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Autoren: Peter May
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werden würde. Mitten in dem Chaos stand ein geöffneter Laptop auf dem Tisch. Ein leuchtend bunter Bildschirmschoner mit Familienfotos war zu sehen.
    Truquet beugte sich über die Tastatur und verbannte den Bildschirmschoner. Es erschien ein Kalender auf dem Monitor. «Das war geöffnet, als wir kamen.»
    Die Polizeichefin spähte auf die Tabelle und überflog die Einträge für vier Wochen, bis ihr Blick am heutigen Datum hängenblieb. Das Herz schlug ihr plötzlich bis zum Hals. Enzo – 11:00 stand auf dem Bildschirm.
    «Commissaire.» Eine Stimme aus dem Flur.
    Sie sah auf, war aber noch wie benommen, und so reagierte sie erst auf den zweiten Ruf. Sie ging in den Flur hinüber. Der leitende Kriminaltechniker stand in seiner Duschhaube und seinem weißen Plastikanzug breitbeinig über der Leiche und hielt ihr eine Pinzette entgegen. «Haare, die wir an der Kleidung des Opfers sichergestellt haben. Nicht von ihr. Definitiv nicht von ihr.»
    Taillard ging einen Schritt näher heran und sah mehrere lange schwarze Haare zwischen den Greifern der Pinzette.
    «Lang, wie von einer Frau», sagte der Kriminaltechniker.
    «Oder wie von einem Mann mit Pferdeschwanz.» David Truquets Bemerkung kam von hinten. Als sie sich umdrehte und seinem forschenden Blick begegnete, erstarrte sie wie die Leiche im Flur.

Kapitel acht
    Kirsty drängte sich durch die Menschenmenge auf dem Place de la Gare zu der riesigen gläsernen Blase, hinter der die Architekten aus unerfindlichen Gründen die historische Fassade des Bahnhofs versteckt hatten. Eine architektonische Geschmacksverirrung, die noch Generationen künftiger Straßburger zu ertragen hätten. Die Renovierung des Bahnhofs und seine Anbindung an das wachsende Straßenbahnnetz der Stadt waren – einschließlich dieser Monstrosität aus Glas – erst kürzlich abgeschlossen worden.
    Statt des Schneeregens trieb jetzt ein scharfer Ostwind aus Sibirien prasselnden Regen vor sich her. Reisende hasteten mit gesenkten Köpfen unter ramponierten Schirmen die Gehwege entlang, die sich wie die Speichen eines Rades an der Nabe des Gare de Strasbourg vereinten.
    Auf der riesigen Uhr in der großen Bahnhofshalle war es fast halb fünf – in wenigen Minuten würde der Zug mit ihrem Vater einfahren. Kirsty sah sich nervös nach den Gesichtern der Passagiere um, die sie von allen Seiten zu bedrängen schienen. Wenn jemand sie umzubringen versuchte, konnte es logischerweise jeder von ihnen sein. Wie sollte sie wissen, wer?
    Seit Sylvies Tod hatte Kirsty keine Minute geschlafen. Sie hatte die letzte Nacht bei einer Freundin verbracht, wo sie sich, ohne ein Auge zuzutun, im Bett vor Schuldgefühlen und Ratlosigkeit hin- und hergeworfen hatte. Es war ihr vollkommen rätselhaft, welches Interesse jemand daran haben könnte, sie zu töten. Und doch bestand kein Zweifel daran, dass der Anschlag ihr gegolten hatte. Ebenso sicher schien es ihr, dass der Killer nach seinem ersten gescheiterten Versuch ein zweites Mal zuschlagen würde. Sie fühlte sich schutzlos ausgeliefert und unfähig, irgendetwas dagegen zu unternehmen.
    Der Anruf bei ihrem Vater war eine Art Reflex gewesen, ein Rückfall in die Kinderrolle – ein kleines Mädchen, das die starke Schulter sucht. Jemanden, der sie nicht im Stich lassen würde, komme, was da wolle. Aber hatte er nicht genau das all die Jahre hindurch getan?
    Ein Rabbiner mit langem weißem Bart und schwarzem Hut starrte sie an, und sie wandte sich verlegen ab, rannte unter einer Reihe von Steinbögen hindurch Richtung Bahnsteig.
    Und in dem Moment sah sie ihn.
    Nur für einen Augenblick. Ein vage bekanntes Gesicht hinter den Dutzenden von Menschen, die vor dem elsässischen Lebensmittelladen Schlange standen. Sie hielt an und schnappte nach Luft. Wo war er? Dann entdeckte sie ihn wieder. Er blickte mit einer sonderbaren Heiterkeit in seinen durchdringend blauen Augen zu ihr herüber. Dann war er verschwunden, und so angestrengt sie zwischen all den Gesichtern nach ihm suchte, tauchte er nicht wieder auf. Wer war der Mann? Sie wusste, dass sie ihn kannte. Dann fiel es ihr wieder ein. Die Szene spielte sich erneut vor ihrem inneren Auge ab. Eine starke Hand, die ihr aufhalf. «Sie haben Glück gehabt», das waren seine Worte gewesen. Sofort packte sie die blanke Angst.
    * * *
    Sie entdeckte ihren Vater fast im selben Moment, als er aus dem TGV stieg. Er war beinahe einen Kopf größer als die anderen Passagiere, und obwohl sein Haar ergraute, stach sein
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