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Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)

Titel: Der Mörder ohne Eigenschaften: Ein Fall für Enzo Mackay (German Edition)
Autoren: Peter May
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beugte er sich über sein Opfer und betrachtete noch einmal das hübsche Gesicht. Er zog einen Handschuh aus und befühlte mit den Fingerrücken ihre Haut. Sie wurde schon kalt. Dann griff er in eine seiner Innentaschen und zog einen kleinen, durchsichtigen Beutel mit Reißverschluss heraus.

Kapitel fünf
    Die Hände zwischen die Oberschenkel geklemmt und die Schultern hochgezogen, saß Kirsty reglos da. Auch wenn ihr die Augen brannten, waren alle Tränen versiegt. Ihr hämmerte der Schädel, und sie hatte einen Kloß im Hals. Fast die ganze Nacht lang hatte die Polizei sie ausgefragt, bis ihr beinahe die Stimme versagte.
    In welcher Beziehung hatte sie zu Sylvie gestanden? Wie lange hatten sie sich gekannt? Wieso war sie nicht rechtzeitig am Palais des Congrès erschienen? Seit wann arbeitete sie für den Italiener? Sie schienen ihr nicht zu glauben, als sie sagte, sie sei ihm einen Tag vor der Pressekonferenz zum ersten Mal begegnet.
    Der junge Beamte hatte sämtliche Fragen gestellt. Die Frau, die älter war als er, hatte die ganze Zeit nur dagesessen und zugeschaut. Unverwandt hatte sie Kirsty angestarrt, sodass sie sich wie eine Kriminelle fühlte.
    Die beiden hatten sich von ihr schildern lassen, wie ihr Berufsalltag im Parlament ablief. Sie hatte keine Ahnung, wieso. Sie erklärte ihnen, dass sie bei den Vormittags- und Nachmittags- beziehungsweise Abendsitzungen jeweils in Zweierteams arbeiteten. Normalerweise dauerte eine Sitzung drei Stunden, doch jeder Dolmetscher arbeitete immer nur eine halbe Stunde, dann löste der andere ihn ab. Die Arbeit sei unglaublich erschöpfend, da sie ein Höchstmaß an Konzentration erfordere. Zwischen den Sitzungen ging man essen, schöpfte neue Kraft. Dann sammelte man sich fünf bis zehn Minuten, um mit einem neuen Adrenalinschub weiterzumachen. Wie ein Athlet. Am Ende eines Arbeitstages war man erledigt. Kaputt. Und brauchte zuweilen Stunden, um zu entspannen.
    Meist hatte man privat nur mit anderen Dolmetschern Kontakt, die aus eigener Erfahrung wussten, wie hart der Job war. Freundschaften zwischen Dolmetschern hielten gewöhnlich ein Leben lang. Obwohl Kirsty ihre Kollegin Sylvie erst seit einem Jahr gekannt hatte, waren sie in der Treibhaushitze der Dolmetscherkabine schnell unzertrennliche Freundinnen geworden. Sie machten alles zusammen, vertrauten einander ihre dunkelsten Geheimnisse an. Nach Ablauf von Kirstys Probejahr hatten sie sich eine gemeinsame Wohnung nehmen wollen. Daher war es nur natürlich, dass Kirsty, nachdem sie den ersten Schock über die Explosion halbwegs überwunden hatte, eine unsägliche Leere in sich empfand, gefolgt von lähmender Trauer. Schließlich Schuld – entsetzliche Schuldgefühle, denen sie sich ohnmächtig ausgeliefert sah. Sie fühlte sich für Sylvies Tod verantwortlich, als hätte sie selbst die Bombe gezündet und ihre Freundin in die Luft gesprengt.
    Wäre sie nicht zu spät zur Pressekonferenz gekommen, hätte sie nicht angerufen, wäre Sylvie noch am Leben.
    Seit das erste Morgengrauen die verschwommenen Schatten der Fenstergitter an die gegenüberliegende Wand warf, war sie allein im Raum. Sie zweifelte, ob sie einem Leben da draußen je wieder gewachsen sein würde.
    Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, bis die Tür aufging und ihr junger Vernehmungsbeamter zurückkam. Die stumme ältere Frau folgte ihm in den Raum und setzte sich ohne ein Wort. Kirsty sah ihr mit müden, doch vor Wut funkelnden Augen kurz ins Gesicht. Sie wusste selbst nicht, wieso, doch alle ihre Emotionen schienen sich in einem unbändigen Hass auf diese Frau zu konzentrieren. Der junge Mann ließ eine Akte auf den Tisch fallen, der zwischen ihnen stand, und sah Kirsty mit einer seltsamen Mischung aus Verständnislosigkeit und Neugier an.
    «Die Kollegen von der Spurensicherung haben ihr erstes Gutachten zum Tatort vorgelegt», sagte er. «Ihr Arbeitgeber kann sich äußerst glücklich schätzen, dass er überlebt hat.» Er hob den Kopf und schien das fahle Licht zu betrachten, das durch die kleinen Fenster dicht unter der Decke hereinsickerte. «Aber das liegt wohl daran, dass der Anschlag gar nicht ihm galt.» Erneut sah er Kirsty mit einem fragenden Blick an. «Es war ein kleiner Sprengkörper. Mit begrenzter Reichweite. Zielgenau. Er war unter dem Podium angebracht, genau unter dem Stuhl der Dolmetscherin. Und da die Sitzverteilung im Vorhinein festgelegt wurde, kann das nur eines bedeuten: Die Bombe war nicht für den Italiener
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