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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber
Autoren: Sabine Thiesler
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rechts zur Notaufnahme. Also war er wahrscheinlich doch eingeliefert worden und dann auf eigenen Wunsch gegangen. Aber selbst das wusste er nicht mehr.
    Mit dem Koffer in der Hand trat er auf die Straße. Es war dunkel, und er versuchte vergeblich, sich zu erinnern, wann er das letzte Mal Tageslicht gesehen hatte. Ihm war übel vor Hunger, und als er auf die Uhr sehen wollte, war sein Handgelenk leer. Aha. Die Uhr hatten sie ihm also geklaut. Irgendwo beim Schlafen unter einer Brücke oder in einer finsteren Kneipe. Vielleicht hatte er sie auch beim Pokern verloren. Alles war möglich.
    Langsam ging er durch die nächtliche Stadt, wusste inzwischen wieder genau, wo er war, und brauchte zwanzig Minuten bis zu seinem Stammitaliener.
    Giovanni stand hinterm Tresen, als Jonathan das Restaurant betrat, und winkte ihm kurz zu.
    »Was ist los, Dottore?«, fragte er. »Du siehst verdammt schlecht aus!«
    »Kriege ich noch was zu essen?«
    »O dio, es ist kurz nach Mitternacht! Die Küche ist schon geschlossen, tut mir leid. Pietro räumt gerade auf.«
    »Vielleicht hast du doch noch eine winzige Kleinigkeit für mich? Bitte, Giovanni! Mach mir einfach ein paar Nudeln warm, das reicht schon. Und ein Glas Wein.«
    Giovanni kannte Jonathan seit einigen Jahren, er kam bestimmt zweimal in der Woche zum Essen, aber in diesem Zustand hatte er ihn noch nie erlebt. Jonathans Gesichtsfarbe war grau, er wirkte hohlwangig, die Augen waren rot und entzündet, wie bei einem Menschen, dem man unter Folter den Schlaf entzieht. Wahrscheinlich hatte er wirklich schon lange nichts mehr gegessen und getrunken, denn seine Lippen war trocken und eingerissen.
    »Ich werde Pietro mal fragen«, sagte Giovanni daher milde und verschwand in der Küche.
    Jonathan setzte sich. Er hatte den Eindruck, seine Hände festhalten zu müssen, damit sie nicht vom Tisch rutschten, so schlapp fühlte er sich. Er spürte eine Traurigkeit, die ihm jede Kraft nahm, und er hatte keine Idee, was er in dieser Nacht, was er überhaupt in seinem Leben noch machen sollte.
    »Pasta kommt gleich«, sagte Giovanni, als er aus der Küche kam, und stellte einen halben Liter Rotwein vor Jonathan auf den Tisch.
    »Du siehst aus, als wenn irgendwas passiert wäre.«
    »Nein, aber ich fühl mich nicht gut. Ich glaube, ich muss mal raus. Verreisen. Irgendwohin. Aber ich habe noch keine Idee.«
    »Fahr nach Italien. Italien ist immer gut für die Seele. Auch im Winter.«
    Ja, dachte er. Italien. Warum auch nicht. Vor sechs Jahren war er das letzte Mal dort gewesen. Mit Jana hatte er einen fünftägigen Kurztrip nach Venedig gemacht, und die Eindrücke waren bis heute nicht verblasst. Großbürgerliche Häuser mit heruntergekommenen Fassaden, Türen und Fensterläden geschlossen. Aber wenn sich ein Fenster öffnete, offenbarte sich dahinter die Pracht eines Palazzo mit edlen Deckenintarsien, kostbaren Wandteppichen, prunkvoll vergoldeten Spiegeln und Lüstern aus Muranoglas. Venedig bestand aus unzähligen Palästen, die sich hinter schäbigen Fassaden versteckten. Das hatte Jonathan beeindruckt.
    Italien. Er spürte, wie in ihm eine Sehnsucht aufkeimte, in dieses Land zu fahren. Vielleicht war es die Lösung.
    »Wann willst du denn fahren?«, fragte Giovanni.
    »Am liebsten sofort. Ich weiß es nicht, ich habe mir noch keine Gedanken gemacht. Und ohne dich wäre ich auch nicht auf diese Idee gekommen.«
    »Mein Sohn fährt noch heute Nacht nach Bologna. Er will ein paar Tage seine Mutter besuchen. Ich könnte mir vorstellen, dass es ihm gefällt, ein bisschen Gesellschaft zu haben.«
    Jonathan wusste, dass Giovanni vor zehn Jahren geschieden worden war. Während er in Berlin geblieben war und das Restaurant weiterführte, war seine Frau zurück nach Bologna gegangen.
    Jonathan trank den Wein in großen Schlucken.
    »Okay«, sagte er, »ich fahre mit.«
     
    Sechzehn Stunden später hatte ihn Giovannis Sohn Angelo in Bologna am Hauptbahnhof abgesetzt, und Jonathan war um vierzehn Uhr vierundzwanzig in irgendeinen Zug gestiegen, der mit zwölf Minuten Verspätung um fünfzehn Uhr vierunddreißig im Hauptbahnhof von Florenz, Santa Maria Novella, ankam.
    Er kaufte sich bei einem Straßenhändler eine billige Digitaluhr für fünf Euro, einen dünnen, lauwarmen Milchkaffee in einem Styroporbecher und ein Brötchen mit Tomate und bereits angetrocknetem Mozzarella. Dazu eine deutsche Zeitung.
    Allmählich setzte der Feierabendverkehr ein. Auf dem Bahnhofwar es voll, Jonathan stand in der
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