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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber
Autoren: Sabine Thiesler
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seine Brieftasche mit der Krankenversicherungskarte, einer Kreditkarte, Ausweis, Führerschein und einem Foto seiner Tochter im Alter von fünf Jahren. Sie saß in einer Sandburg an der Ostsee und hielt triumphierend ihre Schippe in die Höhe. In der Jackenaußentasche steckte noch eine Lesebrille.
    Das war alles, was von seinem Leben übrig geblieben war.
    Es war jetzt knapp fünf Tage her, seit er nach einem Streit mit Jana das Haus verlassen hatte. Er fühlte sich als Verlierer, weil er gegangen war, aber das war nicht wichtig. Auch wenn sie triumphierte – er hätte es in ihrer Nähe keine fünf Minuten länger ausgehalten.
    Dass er vor der großen Anzeigetafel auf dem Flughafen Tegel gestanden hatte, wusste er noch. Paris, Brüssel, Kopenhagen, Athen, Rom, Lissabon. Zehn Minuten, vielleicht auch eine halbe Stunde hatte er auf die rauf-und runterklappernden Buchstaben gestarrt, aber die Orte bedeuteten ihm nichts. Zürich, Budapest, Mailand, Stockholm. Geflogen war er in seinem Leben genug.
    Er wandte sich ab und fuhr mit dem nächsten Bus zurück in die Stadt.
    Was er in den darauffolgenden drei Tagen und Nächten getan hatte, konnte er jetzt nicht mehr sagen. Er versuchte sich zu erinnern, aber vor seinen Augen tauchten nur vereinzelte Bilder von Wartehallen, U-Bahnhöfen und Kneipen auf. Von einem grellbunten Drogeriemarkt, in dem er Wodka kaufte, und von einem Kanal, an dessen Ufer er sich übergab. Er hatte keine Erinnerung mehr an Wärme oder Kälte und glaubte, weder irgendetwas gegessen noch mit einem Menschen gesprochen zu haben.
    Vor zwei Stunden war er in einer Toilette der Charité aufgewacht. Er lag in der engen Kabine auf dem klebrigen Fußboden, gekrümmt wie ein Embryo, den Kopf direkt neben der Toilettenschüssel, und mit seinen Armen umklammerte er den Fuß des Beckens wie ein Schiff brüchiger den rettenden Baumstamm. Mühsam zog er sich hoch und versuchte aufrecht zu stehen. In seinen Haaren klebte Erbrochenes, und erst jetzt bemerkte er, dass er direkt in einer mittlerweile getrockneten Lache gelegen hatte.
    Er ekelte sich vor sich selbst, als er sein blasses, müdes Gesicht und seine zerzausten, verdreckten und seit Tagen nicht mehr gekämmten Haare im Spiegel sah. Sein Mund war ausgetrocknet, und sein Speichel schmeckte bitter und säuerlich zugleich. Am meisten wunderte er sich darüber, dass sein Koffer immer noch da war und neben ihm auf dem Fliesenboden stand.
    Sein Koffer war das Wichtigste und Einzige, was er besaß. Er erinnerte sich dunkel an eine Situation, die zwei, drei oder auch schon fünf Tage her sein konnte. Er war am Ufer der Spree eingeschlafen. Seinen Koffer hatte er als Kissen benutzt und war davon aufgewacht, dass jemand dabei war, ihn unter seinem Kopf wegzuziehen. Ihm wurde schwindlig, als er hochfuhr und sah, wie ein ausgemergelter Mann Ende sechzig mit langem, verfilztem weißem Haar mit dem Koffer f lüchtete.
    So schnell war Jonathan schon seit Wochen nicht mehr aufgesprungen.
    »Hey«, schrie er, »bleib steh’n, du Arsch, oder ich schlag dir alle Zähne aus!«
    Der andere hatte nicht viel Kraft, und der Koffer war schwer. Jonathan holte den Mann schnell ein und riss ihn zu Boden. Im Fallen schleuderte der Alte den Koffer so weit er konnte von sich, und Jonathan sah, dass er die Böschung hinunterrutschte.
    Der Alte interessierte ihn nicht mehr. Er hechtete seinem Koffer hinterher und erreichte ihn gerade noch im allerletzten Moment, als er bereits im Wasser schwamm, aber von der Strömung noch nicht abgetrieben war. Er zog ihn heraus, drückte ihn fest an sich und hörte sich schluchzen vor Erleichterung. Sein Leben ging weiter, wenn man das, was ihm geblieben war, noch als Leben bezeichnen konnte.
     
    Jonathan wollte gar nicht wissen, wie er in die Charité gekommen war. Ob er einfach nur eine Toilette gesucht hatte und eingeschlafen war oder ob man ihn mit der Ambulanz gebracht hatte und er den Schwestern und Ärzten entkommen war. Es war müßig und unerfreulich, darüber nachzudenken, wie er die vergangenen zweiundsiebzig Stunden verbracht hatte, wichtig war, dass seine Sachen noch da waren, er keine Kopfschmerzen hatte und einigermaßen aufrecht gehen und stehen konnte.
    Er wusch sein Gesicht und seine Haare mit kaltem Wasser, spülte sich den Mund aus, trank gierig, trocknete sich mit mehreren Papierhandtüchern ab und verließ die Toilette. Pfeile zeigten in Richtung Ausgang, demnach befand er sich im Parterre. Ein großes rot-weißes Schild wies nach
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