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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber
Autoren: Sabine Thiesler
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Tourist sieht er nicht aus, aber auch nicht wie ein Penner. Wahrscheinlich ist er ein Intellektueller oder ein Künstler, bei denen es zurzeit Mode war, sich die Haare wachsen zu lassen und zu einem Zopf im Nacken zusammenzufassen. Riccardo fand das ziemlich albern und unpraktisch, aber irgendetwas an diesem Fremden gefiel ihm. Vielleicht die Art, wie er genussvoll seinen Wein getrunken hatte, oder aber schlicht die Frage, was er an einem verregneten Novemberabend in Ambra zu suchen hatte.
    Fast beiläufig hob Riccardo die Hand und nickte dazu. »Er kann mitkommen«, sagte er zu der Blonden. »Im Moment hab ich keine Gäste, meine Ferienwohnung steht leer.«
    Jonathan hatte zumindest verstanden, dass Riccardo etwas Positives gesagt hatte.
    »Camera libera«, meinte die Blonde grinsend. »Da lui!« Dabei tippte sie mit dem Finger in Riccardos Richtung.
    Jonathan nickte erleichtert. »Grappa!«, sagte er. »Per us.« Dabei zeigte er auf Riccardo und Ugo, der bisher noch gar nichts gesagt hatte, die Blonde und sich selbst.
    Die Blonde nahm wortlos drei Grappagläser aus dem Schrank und schenkte ein. Als Jonathan sie fragend ansah, deutete sie auf ihren Bauch, wischte mit ihrem sich hin und her bewegenden Zeigefinger ein entschiedenes »Nein« in die Luft und flüsterte strahlend: »Bimbo. Tra cinque mesi!«
    Dass sie schwanger war, hatte Jonathan noch gar nicht bemerkt. Und in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass es jetzt schon über zwei Jahre her war, dass er einen erotischen Gedanken gehabt, Lust verspürt, geschweige denn eine Frau berührt hatte.
    Riccardo und Ugo tranken ihren Grappa in einem Zug, Jonathan brauchte etwas länger. Schließlich stand Riccardo auf, schob sich die Mütze tiefer in die Stirn, grüßte sowohl die Blonde als auch die Dunkle mit einem knappen »Ciao«, drückte Ugo kurz zum Abschied die Schulter und ging, während er Jonathan aufforderte mitzukommen, zur Tür. Jonathan legte einen Zwanzigeuroschein auf den Tresen und folgte ihm. Da ihn die Blonde nicht erbost zurückrief, wusste er, dass er zu viel bezahlt hatte.
    Riccardo hatte einen verbeulten weißen Pick-up, auf dessen Ladefläche leere Olivenkästen und zusammengerollte Netze lagen. Außerdem zwei Leitern und eine Kiste mit allerlei Werkzeug und undefinierbarem Krempel.
    Bevor er einstieg, streckte Riccardo Jonathan die Hand hin. »Sono Riccardo«, sagte er grinsend. »Riccardo Valentini.«
    »Jonathan Jessen«, antwortete er und schlug ein. Anschließend kletterte er auf den Beifahrersitz, Riccardo startete den Motor, der Geräusche machte, als müsse er abhusten, und fuhr los.
    Während der Fahrt schwiegen sie, was Jonathan aber nicht als unangenehm empfand. Sie ließen Ambra hinter sich, bogen nach einigen Kilometern rechts ab und fuhren in die Hügel des Chianti hinein. Trotz der Dunkelheit spürte Jonathan die Schönheit und Weite der Landschaft. Er wurde ruhig und sah der Nacht zuversichtlich entgegen. Es war ihm egal, wohin Riccardo ihn brachte, ihm war jedes Zimmer recht, auch wenn es noch so einfach oder unbequem sein sollte.
    Nach einer Viertelstunde erreichten sie Monte Benichi und fuhren zwischen der Ruine eines Palazzo und der alten Stadtmauer direkt auf die kleine Osteria zu, in der noch Licht brannte, aber durch die geschlossene Gardine konnte Jonathan nicht erkennen, ob Gäste da waren oder nicht.
    Unmittelbar nach Monte Benichi bogen sie auf eine Schotterstraße ab. Riccardo fuhr wie ein Verrückter. Der Wagen sprang über die Schlaglöcher und rutschte auf dem feuchten, schlammigen Boden. Nur einen knappen Meter neben ihnen ging es steil bergab, selbst in der Dunkelheit konnte Jonathan die Tiefe der gewaltigen Schlucht erahnen, aber er sagte nichts.
    Nach dreihundert Metern begann der Wald.
    Nebelfelder zogen durch die Nacht. Die Bäume erschienen im Scheinwerferlicht riesengroß. Jonathan nahm nur winzige Ausschnitte der Umgebung war, die Luft war feucht, Regentropfen fielen von den Blättern auf die Windschutzscheibe.
    Riccardo raste jetzt, als wolle er seinen Wagen auf diese Weise verschrotten. Jonathan hielt sich am Griff über dem Seitenfenster fest und versuchte sich zu merken, wo Riccardo langfuhr, aber nach der dritten oder vierten Abzweigung gab er es auf. Alle Wege sahen gleich aus, der Wagen rumpelte bergauf und bergab, Äste hingen über der Straße, es war unmöglich, die Orientierung zu behalten.
    Jonathan sah auf die Uhr. Seit Monte Benichi waren sie jetzt zwölf Minuten unterwegs und keinem einzigen
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