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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber
Autoren: Sabine Thiesler
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einmal sehen konnten, und mit hängenden Armen.
    »Darf ich es zum Abschied noch einmal küssen?«, fragte sie flüsternd und mit bebenden Lippen.
    »Natürlich.«
    Sofia machte noch einen Schritt auf Tobias zu, war Daniela ganz nahe, spürte sie direkt mit ihrem Körper, hielt sie an der Schulter, und als sie sie küsste, zog sie blitzschnell das Messer hinter ihrem Rücken aus dem Schürzenband und stach es mit voller Wucht Tobias in den Rücken. Sie traf keine Rippe und wunderte sich, wie leicht es ins Fleisch glitt.
    Tobias stöhnte auf, genauso überrascht wie Jonathan einige Minuten zuvor. Krampfhaft hielt er seine Tochter fest und war somit wehrlos. Sie kümmerte sich nicht mehr um Daniela, sondern zog das Messer nach oben und nach unten, bohrte, zog es heraus und stach erneut zu. Insgesamt fünfmal, dann ging er zu Boden.
    Und als er starb, hatte er das kleine Mädchen immer noch im Arm.
    Sofia löste seine Finger, die Danielas Kopf umklammert hielten, und hob sie hoch.
    »Wir zwei«, flüsterte sie, »du und ich, mein Kind, wir schaffen das. Wir schaffen alles.«
    Als sie langsam aus der Küche ging, um ihre Mutter zu wecken und die Carabinieri anzurufen, lächelte sie.

EPILOG
    Eine knappe halbe Stunde später traf Donato Neri auf La Passerella ein. Ohne Alfonso. Er wollte erst einmal selbst sehen, was geschehen war, und sich nicht gleich wieder von seinem Kollegen verrückt machen lassen.
    Er war auf einiges gefasst gewesen, als Sofia ihn angerufen hatte. »Bitte, komm schnell!«, hatte sie gesagt. »Jonathan ist tot und ein Fremder auch.«
    Aber das, was er dann sah, übertraf seine schlimmsten Alpträume und verschlug ihm für einen Moment die Sprache.
    »Madonnina!«, stotterte er. »Porcamiseria, was ist denn hier bloß los bei euch?«
    Fassungslos stand er vor Jonathans Leiche. »Wenn ich jetzt nicht wüsste, wer das ist, ich würde ihn wahrscheinlich gar nicht erkennen«, murmelte er leise.
    Wie sehr Jonathan seine Frau verehrt hatte, begriff er erst jetzt, als er Sofias Bildnis über dem Altar sah, und er erinnerte sich an das Gespräch mit Riccardo eines Morgens im Wald und dessen Verunsicherung. Jonathan hatte Sofia wirklich regelrecht angebetet!
    Ruhig und detailliert schilderte Sofia, wie der Fremde aus Deutschland Jonathan erschlagen hatte. Ein Gast, ein Wahnsinniger, dem in Deutschland sein Kind geraubt worden war, der das nicht verkraftet hatte und der ihr gemeinsames Glück mit Daniela nicht ertragen konnte. Er wollte das Kind, und als Jonathan tot war, hatte er versucht, es ihren Armen zu entreißen. Da hatte sie ihn erstochen.
    »Reine Notwehr!«, resümierte Neri. »Ganz klarer Fall. Das hast du gut gemacht, Sofia. Alle Achtung! Wenn ich mir vorstelle, als Blinde mit einem Messer auf einen starken, jungen Mann loszugehen – das ist eine unglaubliche Leistung!«
    Sie hatte den Mut einer Löwin gehabt, ihr Kind vor diesem Mörder zu retten, der es entführen wollte, dachte Neri. Vielleicht konnte man sich als Mann gar nicht vorstellen, wozu Mütter fähig sein konnten, wenn es darum ging, ihre Brut zu schützen. Jeder Richter der Welt würde das verstehen.
    »Mach dir keine Sorgen, Sofia«, beruhigte er sie, »du hast vor Gericht nichts zu befürchten.«
     
    Kurz darauf kam Riccardo vom Feld. Er hatte seine Weinreben gedüngt, war sehr hungrig und freute sich auf ein ruhiges, schnelles Mittagessen. Aber was er vorfand, war die Polizei auf La Passerella, seinen erschlagenen Schwiegersohn und einen erstochenen Gast. Außerdem eine vollkommen sprachlose Amanda, eine traumatisierte Sofia und ein weinendes Baby, das wie er Hunger hatte und übermüdet war.
    Riccardo setzte sich unterhalb des Hauses auf eine steinerne Bank, die er vor Jahren aufgestellt hatte. Hier konnte er einen Moment allein sein.
    Er liebte diese warmen Spätsommertage mit ihrer samtweichen Luft und dem Geruch von saftigem Moos unter Pinien. Bald würde es die ersten Pilze geben. Es war eigentlich alles wie immer, und doch würde es von jetzt an nie mehr so sein wie früher.
    Er hatte es geahnt. Hatte es die ganze Zeit gespürt, dass das Auftauchen dieses Fremden vor nunmehr sieben Jahren nicht unbedingt ein Segen gewesen war. Jetzt hatte Sofia keinen Mann mehr, aber sie hatte ein Kind. Ein Kind, das ihrem Leben Inhalt und Aufgabe geben und im Alter eine Stütze sein würde.
    Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter.
    »Komm rein«, sagte Neri, »Sofia braucht dich jetzt. Und mach dir keine Sorgen. Alles wird
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