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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber
Autoren: Sabine Thiesler
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einmal begriff Tobias die Zusammenhänge.
    »Sie sind der Vater«, sagte er tonlos.
    »Ja, so ist es«, flüsterte Jonathan, »das ist das Porträt meiner Tochter.« Er sah Tobias nicht an, sondern blickte wie entrückt in die Flamme einer brennenden Kerze.
    »Du hast mir meine genommen, ich nehme dir deine. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Glaube nicht, dass du sie jemals wiederbekommst. Durch deine Schuld hast du sie für immer verloren!« Jonathan lachte leise.
    Tobias war jünger, größer und stärker als Jonathan. Und er war ihm überlegen, weil Jonathan überhaupt nicht damit rechnete, was jetzt geschah.
    Blitzschnell griff Tobias einen Kerzenleuchter aus schwerem Messing und ließ ihn mit aller Kraft auf Jonathans Schädel krachen. Das Splittern der Knochen machte ein widerliches Geräusch, wie ein dicker Ast, den der Sturm vom Stamm bricht.
    Im Augenwinkel bemerkte er Sofia, die lautlos hereingekommen war und mit dem Kind auf dem Arm in der Tür stand.
    Jonathan sah Tobias ungläubig an, so wie ihn selbst Engelbert vor einem Jahr angesehen hatte. Sein Kopf hatte eine tiefe Delle, eine riesige Wunde klaffte auf seiner Stirn, und das Blut floss ihm über das ganze Gesicht. Er begann zu taumeln, und Tobias schlug noch einmal zu. Jonathan kippte rückwärts um wie ein gefällter Baum.
    Mit einem Schrei wich Sofia zurück.
    Und dann war der Bann gebrochen. Tobias prügelte auf den bereits am Boden liegenden Wehrlosen ein wie im Rausch. Unzählige Male. Der Kerzenständer zerschmetterte Jonathans Gesicht, bis es nur noch eine einzige unförmige blutige Masse war.

NEUNUNDVIERZIG
    Sofia flüchtete mit ihrem Kind in die Küche. Sie hatte nicht nur die Schläge gehört und die berstenden Knochen, sondern auch alles, was Jonathan gesagt hatte. Und sie hatte das Blut gerochen. Viel Blut. Sie hatte gespürt, dass es ihm übers Gesicht strömte, als er fiel. Jonathan war tot. Er konnte ihr nicht mehr helfen.
    Es hatte also niemals eine Cousine gegeben. Jonathan hatte das Kind diesem Mann gestohlen, der jetzt hier in ihrem Haus war und es zurückverlangte. Sie würde alles verlieren. Erst Jonathan und dann auch noch Daniela. Ohne diese beiden Menschen war ihr Leben zu Ende. Das wusste sie. Also konnte sie alles riskieren.
    Riccardo war im Weinberg, und Amanda schlief noch. Aber sie wäre ihr wohl kaum eine Hilfe gewesen, daher rief sie sie nicht.
    Jetzt rächte sich, dass es in diesem Haus keine Tür gab, die abgeschlossen werden konnte, gleich würde Tobias hier sein.
    Sie hatte nicht mehr viel Zeit.
    Sie band sich eine Schürze um, setzte Daniela einen Moment auf die Arbeitsplatte, zog das größte und schärfste Messer, das es in dieser Küche gab, aus dem Messerblock und schob es auf ihrem Rücken hinter das Schürzenband. Sie war dankbar, dass sie an diesem Morgen eine Jeans trug, der robuste Stoff schützte sie ein wenig vor der Spitze des Messers. Dann nahm sie Daniela wieder auf den Arm, stand still und unbeweglich an der Spüle und wartete.
    Sofia hatte vermutet, dass Tobias die Tür aufreißen und voller Aggression in die Küche stürmen würde, aber er kam leise. Betrat den Raum fast lautlos und blieb an der Tür stehen.
    Sie wusste, dass er da war und dass er sie ansah.
    »Du weißt, was ich getan habe?«
    Sofia nickte.
    »Und du weißt auch, warum ich es getan habe?«
    Sofia nickte erneut.
    »Das Kind, das er dir aus Deutschland mitgebracht hat, ist meine Tochter Lisa-Marie. Ich will sie wiederhaben. Und wenn du sie mir nicht gibst, werde ich dich auch töten. Es kommt nicht mehr darauf an, ich habe nichts mehr zu verlieren. Und ich habe keinerlei Mitleid mit dir.«
    Sofia schluckte. Ihr wurde glühend heiß, und sie fing an zu zittern, obwohl sie wusste, dass das jetzt das Schlimmste war, was ihr passieren konnte. Sie brauchte ihre ganze Kraft und all ihren Mut und durfte keine Sekunde zögern oder schwach werden.
    »Ich verstehe«, sagte sie leise. »Ich verstehe vollkommen.«
    Langsam bewegte sie sich mit Daniela auf den Fremden zu, der gerade ihren Mann getötet hatte. Dorthin, wo sie seine Nähe spürte.
    Ihr Herz klopfte bis zum Hals.
    Sie wusste, dass sie ihm nahe war, und hielt ihm das Kind mit ausgestreckten Armen entgegen.
    »Nimm es. Es gehört dir. Und bitte verzeih.«
    Tobias nahm seine Tochter auf den Arm und konnte es gar nicht glauben. Innerlich war er auf einen Kampf mit Sofia eingestellt gewesen. Fast tat sie ihm leid, wie sie da vor ihm stand mit ihren blinden Augen, die das Kind noch nicht
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