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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber
Autoren: Sabine Thiesler
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aufgedeckt, und die Luft, die über seinen feuchten Rücken strich, fühlte sich eiskalt an. Er stand auf und ging ins Bad, zog sich ein trockenes T-Shirt an und trank einige Schluck Wasser direkt aus dem Hahn.
    Zurück im Zimmer setzte er sich aufs Bett und sah sich um. Es war sein altes Jugendzimmer, aus dem er vor neun Jahren ausgezogen war. Seine Eltern hatten nichts verändert und nichts von den Sachen weggeworfen, die er in seine erste eigene Studentenbude nicht mitgenommen hatte.
    Er öffnete den Schrank. Seit seinem Auszug hatte er nicht mehr hineingesehen. Hier waren alte Schulbücher und Kisten gestapelt, in denen er über Jahre sein Spielzeug aufbewahrt hatte. Er zog eine Kiste heraus. Sie war voller Plastik-und Gummitiere. Elefanten, Giraffen, Pferde, Esel, Kühe, Hunde und Hühner, aber auch Dinosaurier. Mit ihnen hatte er seine Fantasielandschaften bevölkert.
    Er schob die Kiste zurück und zog die nächste heraus. Sie war voller kleiner Ritter, kunstvoll angemalt, und er konnte sich noch daran erinnern, dass er sein Taschengeld lange sparen musste, um sich eine neue Figur kaufen zu können. Auf dem Boden der Kiste lag eine zusammengefaltete Pappburg, die er eigenhändig zusammengesteckt und bemalt hatte.
    Er versuchte, die Burg wieder aufzubauen und sich daran zu erinnern, wie es funktioniert hatte.
    Plötzlich hielt er inne. Ihm wurde heiß. Und in diesem Moment wusste er, was in seinem Unterbewusstsein gespukt und gearbeitet, aber nicht an die Oberfläche gekommen war.
    Ambra. Die Ansichtskarte, die Engelbert und Ingrid aus ihrem Urlaub geschickt hatten, war aus Ambra gekommen. Gestern Abend waren wir auf einem mittelalterlichen Fest in Ambra, es war fantastisch … hatte da sinngemäß gestanden.
    Er hatte nur gewusst, dass Engelbert und Ingrid in die Toskana gefahren waren. Mehr nicht. Sie waren also in der Nähe von Ambra gewesen. War das ein Zufall? Oder gab es da irgendeinen Zusammenhang, den er nur noch nicht kannte?
    Die ganze Sache wurde immer mysteriöser.
    Es hatte jetzt keinen Zweck, wenn er noch einmal versuchte weiterzuschlafen, er war aufgewühlt, und viel zu viel ging ihm im Kopf herum.
    Innerhalb weniger Minuten traf er eine Entscheidung. Er würde nicht zurück nach Buchholz fahren, sondern gleich nach Italien. Seine Kreditkarte hatte er dabei, seine Papiere auch, das Rasierzeug nahm er aus dem Badezimmer mit, das ihm hier immer zur Verfügung stand, falls er über Nacht blieb. Unterwäsche und ein paar T-Shirts konnte er sich in jedem Supermarkt kaufen.
    Er legte seinen Eltern einen Zettel auf den Küchentisch, dass er schon abgereist sei, steckte den Brief und die Fotos in seine Jackentasche, nahm eine Flasche Wasser und zwei Äpfel für unterwegs mit und fuhr um fünf Uhr dreißig auf die Autobahn in Richtung München.

SECHSUNDVIERZIG
    Obwohl er in der Nacht kaum geschlafen hatte, verspürte er während der ganzen Fahrt nicht den geringsten Anflug von Müdigkeit. Er stand wie unter Strom. Irgendetwas würde passieren. Die Zeit der Ungewissheit war vorbei, und das gab ihm Kraft.
    Das Außenthermometer des Wagens zeigte achtunddreißig Grad, und die Klimaanlage fauchte. Wenn Tobias anhielt, um zu tanken oder einen Kaffee zu trinken, traf ihn die Hitze wie ein Keulenschlag. Und je weiter er nach Italien hineinfuhr, umso heißer wurde es.
    Um achtzehn Uhr dreißig erreichte er Ambra. Obwohl es schon früher Abend war, hatte es sich noch kein bisschen abgekühlt. Tobias parkte am Eingang des Ortes vor einem Outlet für Lederwaren und ging dann langsam durch die kleine Stadt. Während der Fahrt war er noch voller Energie und Hoffnung gewesen, beinah enthusiastisch, jetzt war er nur noch müde. Mit jedem Schritt fühlte er sich einsamer. Leonie fehlte ihm so sehr. Mit ihr wäre dies alles einfacher gewesen, sie hatte ihn beruhigen können, wenn er nervös und ungeduldig wurde, und wenn er nicht mehr weiterwusste und resignierte, hatte sie immer noch eine Idee gehabt und einen Ausweg gefunden. Der Mann, den er suchte, hatte nicht nur sein Kind geraubt, sondern auch seine Frau getötet.
    Vor der Bar della Piazza setzte er sich unter einen Sonnenschirm und bestellte ein Schinkenbrötchen, ein kühles Glas Weißwein und eine Flasche Wasser. Mit jedem Zentimeter seines Körpers spürte er die Hitze, die auf ihm lastete und sogar das Atmen schwermachte, so dickflüssig erschien ihm die Luft.
    Alte Männer saßen im Schatten der Hausmauer. Sie aßen und tranken nicht und sagten nur hin und
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