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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber
Autoren: Sabine Thiesler
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wieder ein Wort. Ansonsten schwiegen sie. Saßen stumm auf der Piazza, bis sie eines Morgens einfach nicht mehr aufwachten. Und keiner von ihnen sah so aus, als ob er noch irgendeinen unerfüllten Wunsch oder ein Ziel im Leben hätte.
    Sie sagen nichts, aber wahrscheinlich wissen sie alles, dachte Tobias, wenn ich ein Quartier für die Nacht gefunden habe, werde ich sie fragen. Jeden Einzelnen. Auch im Zeitungsgeschäft, beim Bäcker, beim Fleischer, auf der Post, in der Bank und im Alimentariladen.
    Er fühlte sich besser und gekräftigt, bezahlte und ging weiter. Der Weg in die Altstadt war steil, und der Schweiß floss ihm in kleinen Rinnsalen den Rücken hinunter.
    Ein leichter Wind wehte, als er auf dem freien Platz vor der Kirche stand, und er setzte sich einen Moment auf eine steinerne Bank direkt neben dem Portal.
    Die Sonne brannte. Eine Geranie vertrocknete in einem viel zu kleinen Topf vor geschlossenen Fensterläden. Er dachte an seine Tochter, die er noch nie geküsst und gestreichelt, deren Duft er noch nie gerochen hatte, und er stellte sich den Mann vor, der sie bei sich hatte und den er nicht kannte. Noch nicht kannte. Und wieder fühlte er in sich die Lust zu töten.
    Kurz bevor es über die Brücke und zum Ort hinaus führte, sah er an einem Fensterladen ein Schild, auf dem Camere und Zimmers geschrieben stand. Das Haus, in dem offensichtlich Zimmer zu mieten waren, war ursprünglich einmal gelb gewesen, jetzt war der Putz großflächig abgeplatzt, und es war mehr grau als gelb. Schwarze Sprenkel bis zu einem Meter Höhe zeugten davon, dass der Schwarzschimmel dabei war, das gesamte Haus in Besitz zu nehmen. Im ersten Stock sah man deutlich, dass es vor einer Fenstertür mal einen Balkon gegeben hatte, der aber offensichtlich abgeschlagen worden war. Man hatte ihn nicht erneuert, sondern lediglich ein Gitter vor dem Fenster angebracht.
    Tobias betrat das Haus und stand ziemlich verloren in der Diele, weil nirgends ein Laut zu hören war.
    »Buonasera!«, rief er zaghaft. Es war ihm unangenehm, einfach so und unangemeldet in einem fremden Haus zu stehen.
    Nichts rührte sich. Erst als er dreimal und jedes Mal lauter gerufen hatte, klappte oben eine Tür auf, und eine magere, ungefähr vierzigjährige Frau kam die Treppe herunter, wobei sie sich eilig die langen Haare am Hinterkopf zusammensteckte, als hätte man sie gerade beim Liebesspiel überrascht.
    »Si?«, sagte sie, blieb wie vom Donner gerührt stehen und runzelte die Stirn, als sie Tobias sah. Viele Gäste hatte sie offensichtlich nicht.
    »Ich möchte ein Zimmer mieten«, stotterte Tobias in seinem holprigen und mühsam mit dem Wörterbuch zusammengesuchten Italienisch. »Für ein, zwei oder drei Nächte.«
    Begeistert schien die Frau über den unerwarteten Gast nicht zu sein, aber sie zwang sich zu einem Lächeln.
    »Va bene. Venga.« Sie ging voran, und Tobias folgte ihr.
    Das Zimmer war winzig. Ein Bett, ein Tischchen, ein Stuhl und ein Waschbecken. Anstelle eines Schrankes an der Wand vier Haken. Das Fenster ging zur Straße raus und befand sich genau dort, wo früher einmal der Balkon gewesen war.
    Tobias war zufrieden. Was brauchte er mehr? Er hatte sowieso keine Sachen dabei.
    »Die Toilette ist unten«, sagte die Frau, »und wenn Sie duschen wollen, können Sie unser Bad benutzen. Das ist auch unten.«
    Tobias erahnte nur, was sie gesagt hatte, und nickte ergeben. Es interessierte ihn überhaupt nicht.
    »Was kostet das Zimmer?«
    »Dreißig Euro.«
    »Okay.« Tobias drückte ihr dreißig Euro in die Hand. Die Frau strahlte. »Ich heiße übrigens Viola«, sagte sie.
     
    Tobias gönnte sich eine Viertelstunde, um sich an dem kleinen Waschbecken wenigstens frischzumachen, am offenen Fenster einige Minuten tief durchzuatmen und seine Gedanken zu ordnen.
    Ich bin in Italien, dachte er, irgendwo in einem gottverlassenen Nest in der Toskana, um mein Kind zu suchen, das ich noch keine Sekunde in meinem Arm gehalten habe. Das ist alles absoluter Wahnsinn.
    Dann ging er los.
    In Ambra war jetzt wesentlich mehr Betrieb. Die Leute kamen aus ihren Häusern, erledigten noch ein paar kleinere Einkäufe, unterhielten sich mit Nachbarn und saßen zum Feierabend vor ihren Häusern oder auf der Piazza. Tobias hatte sich mit Hilfe des Wörterbuchs seine Frage zurechtgelegt und erkundigte sich in jedem noch geöffneten Laden nach einem Deutschen, der hier mit einem ungefähr sieben Monate alten Kind lebte.
    »Ich weiß nicht, wie er heißt und wo er
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