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Der Menschenraeuber

Der Menschenraeuber

Titel: Der Menschenraeuber
Autoren: Sabine Thiesler
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konnte, wie einen zappelnden Käfer unterm Mikroskop.
    Tobias folgte Jonathan und wusste immer noch nicht, was er von der ganzen Sache halten sollte. Dieser Mann war offensichtlich strohdumm, aber deswegen noch lange kein schlechter Mensch.

ACHTUNDVIERZIG
    Tobias erwachte früh. Am vergangenen Abend hatte er wenig Lust gehabt, sich mit Jonathan und Sofia zu unterhalten, und sich bereits unmittelbar nach dem Abendessen verabschiedet. Er sah auf die Uhr. Jetzt war es sieben. Er würde nur kurz einen Kaffee trinken und sofort losfahren. Am späten Abend könnte er dann schon wieder in Buchholz sein. Es gab eben Dinge im Leben, die anstrengend, aber letztendlich sinnlos waren und zu nichts führten. Die musste man abhaken und durfte nicht länger darüber nachdenken.
    Er duschte kurz und fühlte sich fit und ausgeruht, als er auf die Terrasse trat. Die Luft roch intensiv nach blühendem Jasmin, noch war es diesig, und das Sonnenlicht, das jetzt am frühen Morgen das Land in Pastelltöne tauchte, flimmerte leicht. Sicher wieder ein herrlicher Tag in der Toskana, sonnig und heiß, aber er sehnte sich zurück in sein Haus mit den hohen dunklen Tannen hinter dem Garten. Merkwürdigerweise fühlte er sich dort weniger depressiv als hier in der hellen, lieblichen Weite.
    Es war still vor dem Haus, niemand war zu sehen. Er hatte gestern Abend auch noch kurz Jonathans Schwiegereltern kennengelernt. Amanda hatte mit einer Flasche Wein vor der Küche auf dem Portico gesessen, und Riccardo hatte ihm zur Begrüßung die Hand geschüttelt und war dann wieder verschwunden. Auch von diesen beiden war niemand in Sicht, und die übrigen Gäste schliefen wohl noch.
    Einen Kaffee konnte er auch in Ambra trinken – das war nicht das Problem, aber er wollte nicht unhöflich erscheinen und scheute sich, einfach so zu verschwinden, ohne sich zu verabschieden.
    Er klopfte an die Tür von Jonathans und Sofias Wohnung. Es war jetzt fast halb acht, eigentlich eine zivile Zeit, Leute auf dem Land schliefen nie lange.
    Nichts rührte sich, aber er hörte leise Musik.
    Tobias drückte die Klinke hinunter und öffnete die Wohnungstür.
    »Herr Valentini? Sind Sie da?«
     
    Liebes, die Gerechtigkeit hat gesiegt!
    DAS IST WUNDERVOLL.
    Er leidet, sein Schmerz ist unermesslich.
    DAS IST GUT SO.
    Bist du glücklich?
    JA, ICH BIN GLÜCKLICH.
    Jonathan kniete in seiner Kammer. Er hatte den Moment genutzt, weil Sofia und das Kind wie jeden Morgen einen kleinen Spaziergang machten, und wollte sich auf seine Andacht konzentrieren. Bei ihr sein und mit ihr reden.
    Er hörte ihr Lied.
    »Quando sei lontana sogno all’ orrizonte
e mancan le parole, e io si lo so
che sei con me, con me,
tu mia luna tu sei qui con me,
mio sole tu sei qui con me,
con me, con me, con me …«
    Er spürte nicht mehr seine schmerzenden Knie und merkte nicht, wie das Wachs einer Kerze, die er in der Hand hielt, auf seine Hand tropfte und die Haut verbrannte.
    Zum ersten Mal rührte ihn dieses Lied nicht zu Tränen, sondern verursachte ein Hochgefühl.
    In diesem Moment hörte Jonathan Tobias’ rufende Stimme.
    Oh, dachte er, wir bekommen Besuch. Wie schön.
    Er kommt, um dich zu sehen, Giselle.
     
    Die Tür flog auf.
     
    Tobias stieß vor Schreck einen unterdrückten Schrei aus. Vor ihm stand Jonathan mit weit geöffneten Armen im Schein von Dutzenden flackernder Kerzen vor einem Altar.
    »Time to say goodbye.«
    Über dem Altar ein Gemälde, das Tobias wie hypnotisiert anstarrte.
    Und dann stürzte alles auf ihn ein. Wie ein Schiff aus dem Nebel tauchte die Erinnerung auf, und ein Bild explodierte in seinem Kopf, von dem er gar nicht mehr wusste, dass er es gehabt hatte: Dieses schöne Mädchen an der Ampel, ihr dunkles, langes Haar und ihr ebenmäßiges Gesicht, die Todesangst in ihrem Blick und die absolute Gewissheit, dass sie in der nächsten Sekunde sterben würde. Vollkommen reglos stand sie da, als warte sie auf den Tod, und starrte ihn an. Sah ihm in die Augen, und er konnte nichts tun und musste ebenso wie sie mit ansehen, wie sein Wagen gegen ihren Körper schleuderte und sie durch die Luft wirbeln ließ.
    Dieser Blick, den er vergessen und verdrängt hatte, war wieder da. Mit ihren ausgestochenen, toten Augen sah sie ihn an.
    Tobias schrie.
    Das Porträt der Frau, die er überfahren hatte, hing hier in diesem Zimmer. In dieser merkwürdigen Kammer.
    Jonathan hatte immer noch kein Wort gesagt. Aber sein Lächeln ließ Tobias’ Blut in den Adern gefrieren.
    Auf
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