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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister
Autoren: Tess Gerritsen
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sollte, dann ich.«
    »Du gönnst dir auch nie eine Verschnaufpause, wie?«
    »Warum sollte ich das nötig haben?«
    »Weil du keine Maschine bist. Irgendwann wird es dich einholen. Du kannst nicht hier herumlaufen und so tun, als sei es bloß irgendein Tatort.«
    »Doch – genau so gehe ich damit um.«
    »Auch nach dem, was um ein Haar hier passiert wäre?«
    Was um ein Haar passiert wäre.
    Sie blickte auf die Blutflecken hinab, und für einen Moment schien der Weg unter ihren Füßen zu wanken, als ob ein Beben die Erde erschütterte und an den Schutzmauern rüttelte, die sie so sorgfältig um sich herum errichtet hatte; ein Beben, das bedrohlich an den Fundamenten rüttelte, auf denen sie stand.
    Er nahm ihre Hand, und die ruhige Gewissheit, die in seiner Berührung lag, ließ ihr die Tränen in die Augen treten. Es war eine Berührung, die sagte: »Dieses eine Mal darfst du wie ein Mensch reagieren. Du darfst schwach sein.«
    Leise sagte sie: »Es tut mir Leid wegen Washington.«
    Sie sah seinen verletzten Blick und begriff sofort, dass er ihre Worte missverstanden hatte.
    »Es wäre dir also lieber, wenn das mit uns nie passiert wäre«, sagte er.
    »Nein. Nein, das meine ich überhaupt nicht …«
    »Was ist es dann, was dir so Leid tut?«
    Sie seufzte. »Es tut mir Leid, dass ich abgereist bin, ohne dir zu sagen, was diese Nacht für mich bedeutet hat. Dass ich mich nicht richtig von dir verabschiedet habe. Und es tut mir Leid, dass …« Sie zögerte. »Dass ich dir nicht erlaubt habe, dich um mich zu kümmern, mich bei der Hand zu nehmen, wenigstens dieses eine Mal. Denn die Wahrheit ist, dass ich dich wirklich gebraucht habe in diesem Moment. Ich bin nicht so stark, wie ich mir immer gerne einrede.«
    Er lächelte. Drückte ihre Hand. »Das sind wir alle nicht, Jane.«
    »He, Rizzoli?« Es war Frost, der ihr vom Waldrand aus zurief.
    Sie blinzelte ihre Tränen weg und drehte sich zu ihm um.
    »Ja?«
    »Wir haben gerade einen zweifachen Zehn-Vierundfünfziger reinbekommen. Quik-Stop-Supermarkt in Jamaica Plain. Ladeninhaber und ein Kunde tot. Der Tatort ist schon gesichert.«
    »Mein Gott. So früh am Morgen.«
    »Wir sind an der Reihe mit diesem Fall. Sind Sie fit genug?«
    Sie holte tief Luft und wandte sich wieder zu Dean um. Er hatte ihre Hand losgelassen, und obwohl seine Berührung ihr fehlte, fühlte sie sich gestärkt: Das Beben war vorüber, sie hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Aber der Augenblick war ihr zu kostbar, um ihn so schnell verstreichen zu lassen. Ihr letzter Abschied in Washington war so überhastet gewesen; sie würde so etwas nicht noch einmal geschehen lassen. Sie würde nicht zulassen, dass ihr Leben so wurde wie das von Korsak: eine traurige Chronik der verpassten Gelegenheiten.
    »Frost?«, sagte sie, ohne den Blick von Dean zu wenden.
    »Ja?«
    »Ich fahre nicht hin.«
    »Was?«
    »Das soll ein anderes Team übernehmen. Es ist mir im Moment einfach zu viel.«
    Keine Antwort. Sie drehte sich zu Frost um und sah seine verblüffte Miene.
    »Soll das heißen … dass Sie sich den Tag freinehmen?«, fragte Frost.
    »Ja. Ich lasse mich ausnahmsweise mal krankschreiben. Haben Sie ein Problem damit?«
    Frost schüttelte den Kopf und lachte. »Wird aber auch höchste Zeit, wenn Sie mich fragen.«
    Sie sah Frost nach. Hörte ihn immer noch lachen, als er zwischen den Bäumen verschwand. Sie wartete, bis nichts mehr von ihm zu sehen war, erst dann drehte sie sich zu Dean um.
    Er breitete die Arme aus, und sie trat auf ihn zu.

26
    Alle zwei Stunden kommen sie herein, um meine Haut nach wundgelegenen Stellen abzusuchen. Es ist ein Trio von Gesichtern, die sich turnusmäßig abwechseln: Armina hat die Frühschicht, Bella kommt abends vorbei, und in der Nacht ist es die stille, schüchterne Corazon. Ich nenne sie meine ABC-Mädchen. Wer nicht genau hinsieht, könnte sie leicht verwechseln, mit ihren zarten braunen Gesichtern und ihren melodischen Stimmen. Eine fröhliche kleine philippinische Girlgroup in weißer Schwesterntracht. Aber ich nehme die Unterschiede zwischen ihnen wahr. Ich erkenne sie daran, wie sie sich meinem Bett nähern, in der Art, wie sie mich anfassen, um mich auf meiner Schaffellunterlage mal nach links, mal nach rechts zu drehen. Das muss Tag und Nacht geschehen, weil ich mich nicht aus eigener Kraft drehen kann und das Gewicht meines eigenen Körpers, das auf der Matratze lastet, die Haut zu stark strapaziert. Es drückt die Kapillargefäße zusammen und
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