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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister
Autoren: Tess Gerritsen
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erstickter Verzweiflungsschrei ihrer Kehle entrang.
    Der Kofferraum war bereits offen; der olivgrüne Fallschirm lag ausgebreitet da; alles vorbereitet für sie, für das Opfer. Er legte sie hinein, ging nach vorne, um ihre Schuhe zu holen, und warf sie ebenfalls in den Kofferraum. Dann schlug er den Deckel zu, und sie hörte, wie er den Schlüssel im Schloss umdrehte. Selbst wenn es ihr gelänge, ihre Hände freizubekommen, würde sie aus diesem finsteren Sarg niemals entkommen können.
    Sie hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, dann setzte das Auto sich wieder in Bewegung. Unterwegs zu einem Mann, der bereits auf sie warten würde – so viel war ihr klar.
    Sie dachte an Warren Hoyt. An sein ausdrucksloses Lächeln, seine langen Finger, die in Latexhandschuhen steckten. Sie dachte an den Gegenstand, den diese Hand halten würde, und eine Woge des Entsetzens überkam sie. Ihr Atem ging schneller, sie glaubte ersticken zu müssen; es schien ihr nicht zu gelingen, die Luft schnell und tief genug in ihre Lungen zu saugen. In Panik wälzte sie sich hin und her, schlug um sich wie ein wildes Tier, das verzweifelt um sein Leben kämpft. Sie stieß mit dem Gesicht gegen den Koffer und war einen Moment lang wie benommen. Erschöpft lag sie da, spürte nichts als das Pochen in ihrer Wange.
    Der Wagen wurde langsamer und blieb stehen.
    Starr vor Entsetzen und mit klopfendem Herzen wartete sie ab, was passieren würde. Sie hörte einen Mann sagen: »Schönen Tag noch!« Dann fuhr der Wagen wieder an und beschleunigte zügig.
    Ein Mauthäuschen. Sie waren auf dem Turnpike.
    Sie dachte an all die kleinen Städte westlich von Boston, all die weiten Felder und ausgedehnten Waldgebiete, die Orte, wo niemand sonst auf die Idee kommen würde anzuhalten. Wo eine Leiche vielleicht nie gefunden würde. Sie dachte an Gail Yeagers aufgedunsene Leiche, überzogen mit schwärzlichen Adern, und an Maria Jeans Gebeine, die verstreut in einem stillen Waldstück gelegen hatten. Der Weg allen Fleisches.
    Sie schloss die Augen, konzentrierte sich auf die Fahrgeräusche, das Rollen der Reifen auf dem Asphalt. Sie fuhren jetzt sehr schnell. Inzwischen hatten sie die Stadtgrenze von Boston gewiss schon hinter sich gelassen. Und was würde Frost denken, während er auf ihren Anruf wartete? Wie lange würde es dauern, bis er merkte, dass etwas passiert sein musste?
    Es hilft nichts. Er wird nicht wissen, wo er suchen muss. Niemand kann das wissen.
    Ihr linker Arm begann unter ihrem eigenen Gewicht einzuschlafen, und das Kribbeln wurde allmählich unerträglich. Sie wälzte sich auf den Bauch, und ihr Gesicht wurde in den seidigen Fallschirmstoff gedrückt. Das gleiche Material, in das die Leichen von Gail Yeager und Karenna Ghent eingehüllt gewesen waren. Sie bildete sich ein, dass sie den Tod in den Falten des Stoffs riechen konnte. Den Gestank der Fäulnis. Angewidert versuchte sie sich auf die Knie zu erheben und stieß mit dem Kopf gegen den Kofferraumdeckel. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie. Der Koffer, so klein er auch war, ließ ihr nur wenig Bewegungsfreiheit, und das Gefühl der Enge drohte sie wieder in Panik zu versetzen.
     
    Beherrsch dich. Verdammt noch mal, Rizzoli, reiß dich zusammen!
    Aber sie konnte die Bilder des Chirurgen nicht aus ihrem Kopf verbannen. Sie sah sein Gesicht, wie es auf sie herabgeblickt hatte, als sie auf dem Kellerboden gelegen hatte, unfähig, sich zu rühren. Sie erinnerte sich, wie sie auf den Schnitt seines Skalpells gewartet hatte, und an die Gewissheit, dass sie ihm nicht entkommen konnte. Dass sie auf nichts mehr hoffen konnte als auf die Gnade eines schnellen Todes.
    Sie zwang sich, langsam und tief durchzuatmen. Ein warmer Tropfen glitt über ihre Wange, und ihr Hinterkopf schmerzte. Sie hatte sich eine Platzwunde zugezogen, aus der das Blut langsam und stetig rann und auf den Fallschirm tropfte. Beweismaterial, dachte sie. Mein Blut wird Spuren hinterlassen, durch die sie rekonstruieren können, was mit mir passiert ist.
    Ich blute. Wo habe ich mir den Kopf angeschlagen!
    Sie reckte die Arme hinter dem Rücken in die Höhe, betastete den Kofferraumdeckel, suchte die Stelle, wo sie sich gestoßen hatte. Sie fühlte geformtes Plastik, eine glatte Metallfläche. Und dann bohrte sich plötzlich die scharfe Kante einer vorstehenden Schraube in ihre Haut.
    Sie hielt inne, um ihren schmerzenden Armmuskeln eine Ruhepause zu gönnen, und blinzelte, als ihr das Blut in die Augen rann. Sie lauschte auf das
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