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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister
Autoren: Tess Gerritsen
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ein Prasseln über ihrem Kopf riss sie aus der Finsternis. Der graue Nebel vor ihren Augen hellte sich langsam auf. Sie schmeckte Blut, warm und metallisch, und ihre Zunge pochte schmerzhaft an der Stelle, wo sie sich gebissen hatte. Der Nebel löste sich langsam auf, und sie sah Tageslicht. Sie waren aus dem Tunnel heraus … aber wohin ging die Fahrt? Noch immer sah sie alles verschwommen; immerhin konnte sie durch das Fenster die Umrisse hoher Gebäude vor einem grau verhangenen Himmel ausmachen. Sie versuchte ihren Arm zu bewegen, doch er war schwer und träge, die Muskeln durch den Krampf völlig entkräftet. Und der Anblick der Häuser und Bäume, die am Fenster vorüberschossen, war so Schwindel erregend, dass sie die Augen wieder schließen musste. Jetzt konzentrierte sie sich ganz darauf, ihre Arme wieder unter das Kommando ihres Willens zu zwingen. Sie spürte, wie die Muskeln zuckten und ihre Finger sich zu einer Faust schlossen. Fester. Stärker.
    Mach die Tür auf. Du musst die Tür aufsperren.
    Sie schlug die Augen auf, kämpfte gegen den Schwindel an, als der Anblick der am Fenster vorüberwirbelnden Umgebung ihr den Magen umdrehte. Sie zwang sich, den Arm ganz auszustrecken – jeder Zentimeter ein kleiner Triumph. Die Hand näherte sich der Tür, der Entriegelung. Sie drückte darauf und hörte, wie das Schloss mit lautem Klicken aufschnappte.
    Plötzlich spürte sie etwas am Oberschenkel. Sie sah sein Gesicht, sah, wie er sich über die Rückenlehne des Vordersitzes beugte und den Taser an ihr Bein presste. Wieder schockte der gebündelte Energiestoß ihren Körper.
    Ihre Beine verkrampften sich. Und Dunkelheit legte sich wie ein schwerer Mantel über sie.
     
    Ein Tropfen kalten Wassers auf ihrer Wange. Das ratschende Geräusch von Klebeband, das von der Rolle gezogen wurde. Sie kam zu sich, als er gerade damit beschäftigt war, ihr die Hände hinter dem Rücken zu fesseln. Er schlang das Band mehrmals um ihre Handgelenke, bevor er es abschnitt. Als Nächstes zog er ihr die Schuhe aus. Sie fielen polternd zu Boden. Dann streifte er ihr auch die Socken ab, damit das Band an ihrer bloßen Haut haften konnte. Langsam klärte sich ihr Blick, und sie sah seinen Kopf, als er sich in den Wagen hineinbeugte, ganz darauf konzentriert, ihre Fußgelenke zusammenzubinden. Hinter seinem Rücken erblickte sie durch die offene Wagentür eine weite grüne Fläche. Keine Häuser. Die Sümpfe? Hatte er sie in die Back Bay Fens verschleppt?
    Wieder das Ratschen des Klebebands, und dann der Geruch des Klebstoffs, als er es auf ihren Mund presste.
    Er starrte auf sie herab, und nun nahm sie die Details wahr, auf die sie nicht geachtet hatte, als er auf ihr Klopfen hin das Fahrerfenster heruntergelassen hatte. Einzelheiten, die ihr unwichtig erschienen waren. Dunkle Augen, ein scharfkantiges Gesicht, der wachsame Blick einer wilden Kreatur. Und die Erregung, die lüsterne Vorfreude. Ein Gesicht, das kein Fahrgast sich merken würde, wenn er auf dem, Rücksitz einer Limousine saß. Das ist die gesichtslose Armee der Uniformierten, dachte sie. Die Leute, die unsere Hotelzimmer reinigen, unser Gepäck schleppen und uns zum Bahnhof oder zum Flughafen chauffieren. Sie bewegen sich in einem Paralleluniversum, und wir nehmen sie so gut wie nie wahr – so lange, bis wir sie brauchen.
    Oder bis sie in unser Leben einbrechen.
    Er hob ihr Handy auf, das auf den Boden gefallen war. Warf es auf die Straße und stampfte mit dem Absatz darauf, zertrampelte es zu einem Häufchen zerborstenen Plastiks und verhedderter Drähte, das er ins Gebüsch kickte. Keine Hoffnung mehr, dass das verstärkte Notrufsignal die Polizei zu ihr führen würde.
    Er arbeitete jetzt zügig und präzise. Der erfahrene Profi, der das tut, was er am besten kann. Er bückte sich, zerrte sie zur Tür und hob sie aus dem Wagen, ohne auch nur einmal zu schnaufen. Einem für Sondereinsätze ausgebildeten Soldaten, der meilenweit mit einem zentnerschweren Rucksack marschieren konnte, bereitete eine Frau wie Rizzoli, die kaum mehr auf die Waage brachte, gewiss keine Probleme. Regentropfen prasselten ihr ins Gesicht, als er sie zum Heck des Wagens trug. Sie sah kurz ein paar Bäume aufblitzen, silbrig glänzend vor Nässe, dazu dichtes Unterholz. Aber keine anderen Fahrzeuge – obwohl von irgendwo jenseits des Waldstücks das auf- und abschwellende Rauschen des Verkehrs zu ihr herüberdrang, als hielte ihr jemand eine Muschel an die Ohren. So nahe, dass sich ein
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