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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister
Autoren: Tess Gerritsen
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drückt ab.
    Sein Kopf explodiert in einem Nebel von Blut.
    Es hat eine merkwürdige Ähnlichkeit mit einem anmutigen Ballett, wie sein Körper sich im Fallen nach hinten biegt, wie ihre Arme mit untrüglicher Präzision zu mir herüberschwingen. Ich habe gerade noch Zeit, mich zur Seite zu drehen, bevor der zweite Schuss fällt.
    Ich spüre nicht, wie die Kugel in meinen Nacken einschlägt.
    Das seltsame Ballett geht weiter, doch nun ist es mein eigener Körper, der den Tanz vollführt. Meine Arme wirbeln im Kreis, und ich fliege durch die Luft wie ein sterbender Schwan. Ich lande auf der Seite, doch ich spüre den Aufprall nicht, höre nur das Geräusch, mit dem mein Rumpf auf der Erde aufschlägt. Ich liege da und warte darauf, dass die Schmerzen einsetzen, das Pochen, doch da ist nichts. Ich bin einfach nur überrascht.
    Ich höre, wie sie mühsam aus dem Wagen klettert. Sie hat über eine Stunde in verkrampfter Haltung dort im Kofferraum gelegen, und es dauert einige Minuten, bis ihre Beine ihr wieder gehorchen.
    Sie kommt auf mich zu. Stößt mit dem Fuß an meine Schulter, wälzt mich auf den Rücken. Ich bin bei vollem Bewusstsein, und als ich zu ihr aufblicke, ist mir vollkommen klar, was nun passieren wird. Sie richtet die Waffe auf mein Gesicht; ihre Hände zittern, sie atmet in kurzen, heftigen Stößen. Ihre Wange ist blutverschmiert, es sieht aus wie eine Kriegsbemalung. Jeder Muskel in ihrem Körper ist auf Töten programmiert. All ihre Raubtierinstinkte schreien sie an abzudrücken. Ich halte ihrem Blick unerschrocken stand, verfolge interessiert den inneren Kampf, der sich in ihren Augen widerspiegelt. Ich frage mich, für welche Form der Niederlage sie sich entscheiden wird. Sie selbst hält das Instrument ihrer Zerstörung in den Händen; ich bin lediglich der Katalysator.
    Töte mich, und die Folgen der Tat werden dich vernichten.
    Lass mich am Leben, und ich werde dich bis an dein Lebensende in deinen Albträumen verfolgen.
    Sie stößt ein leises Schluchzen aus. Langsam lässt sie die Waffe sinken. » Nein « , flüstert sie. Und dann noch einmal, lauter. Trotzig: »Nein.« Dann strafft sie die Schultern, holt tief Luft.
    Und geht zum Wagen zurück.

25
    Rizzoli stand auf der Lichtung und blickte auf die vier in die Erde getriebenen Eisenpflöcke herab. Zwei für die Arme, zwei für die Beine. In der Nähe waren Seilstücke gefunden worden, bereits zu Schlingen geknüpft, die nur noch um die Hand- und Fußgelenke des Opfers festgezurrt werden mussten. Sie vermied es, über den offensichtlichen Zweck dieser Pflöcke nachzudenken. Stattdessen ging sie das Gelände mit der geschäftsmäßigen Miene einer Polizistin ab, die irgendeinen beliebigen Tatort inspiziert. Dass es ihre Arme und Beine gewesen wären, die an diese Pflöcke gefesselt worden wären, ihr Fleisch, das die in Hoyts Rucksack gefundenen Instrumente zerrissen hätten, war ein Detail, das sie weit von sich schob. Sie spürte, wie ihre Kollegen sie beobachteten, konnte hören, wie sie die Stimme senkten, wenn sie sich ihnen näherte. Der Verband auf ihrer genähten Kopfwunde brandmarkte sie unübersehbar als Versehrte, und alle behandelten sie dementsprechend – als ob sie aus Glas wäre. Und das konnte sie nicht ertragen; nicht jetzt – nicht, wenn es für sie wichtiger denn je war, sich nicht als Opfer zu sehen. Zu glauben, dass sie ihre Gefühle voll im Griff hatte. Und so bewegte sie sich hier, wie sie es an jedem anderen Tatort getan hätte. Die Staatspolizei hatte schon am Abend zuvor alles fotografiert und die Umgebung abgesucht; das Gelände war offiziell freigegeben. Aber dennoch hielten Rizzoli und ihr Team es für geboten, sich am Morgen selbst noch einmal ein Bild von der Lage zu machen. Und so stapfte sie nun mit Frost durch den Wald, und für eine Weile war nichts zu hören als das Sirren des Maßbands, das aus dem Gehäuse glitt und wieder zurückschnellte. Sie maßen die Entfernung vom Waldweg bis zu der kleinen Lichtung aus, auf der die Staatspolizei Warren Hoyts Rucksack gefunden hatte. Trotz der Bedeutung, die dieser von Bäumen umstandene Platz für sie persönlich hatte, versuchte sie die Lichtung mit objektivem Blick zu betrachten. In ihrem Notizbuch war festgehalten, was in dem Rucksack gefunden worden war: Skalpelle und Klemmen, Wundhaken und Handschuhe. Sie hatte sich die Fotos von Hoyts Fußspuren angesehen, von denen inzwischen Gipsabdrücke angefertigt worden waren, und hatte die Plastikbeutel mit den
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