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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg
Autoren: Wolf Serno
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Aussehen. Ich schäme mich dafür. Komm nicht näher, ich stinke, ich habe Wanzen.
    »Oh, mein Liebster.« Odilie trat mit zwei raschen Schritten an mich heran und kniete vor mir nieder. Ihre Hand, so kühl und glatt, strich über meinen verfilzten Bart. »Mein Liebster«, flüsterte sie noch einmal, »jetzt bin ich da, und alles wird gut.«
    »Ja«, krächzte ich, »jaja. Ich kann noch gar nicht glauben, dass du es wirklich bist, meine Prinzessin.«
    »Ich bin es.« Sie küsste meine rissigen Lippen und streichelte mein schmutzstarrendes Gesicht.
    »Bitte«, murmelte ich, »bitte tu das nicht. Ich bin so widerlich.«
    »Das bist du nicht.« Sie fuhr fort, mich zu herzen und zu liebkosen, und ich vergaß alles um mich herum. Ich wollte ihre Zärtlichkeiten erwidern, doch ich konnte es nicht, denn meine Arme waren in Ketten.
    »Ich sehe keinen Schmutz, ich sehe nur einen Mann, der mir das Leben gerettet hat, einen tapferen Mann – meinen Mann«, sagte meine Prinzessin leise. Sie öffnete ihre Kleider und drängte sich an mich, und ich spürte ihre Nähe, ihre Wärme, ihr Fleisch. Sie tat es trotz meines Drecks und meines Gestanks. Wie sehr musste sie mich lieben!
    Lange Zeit verweilten wir so. Ich wollte ihr tausend Dinge sagen und wollte sie tausend Dinge fragen, doch die einzige Frage, die mir einfiel, war: »Welchen Tag schreiben wir heute?«
    »Sonntag, den ersten November, mein Liebster. Allerheiligen.«
    »Allerheiligen«, wiederholte ich sinnend. Das bedeutete, dass ich schon über ein halbes Jahr im Kerker saß. »Ob ich wohl jemals aus diesem Loch herauskomme?«
    »Das wirst du«, sagte meine Prinzessin und lehnte sich an mich.
    »Wirklich?«, fragte ich ungläubig.
    »Du musst Geduld haben. Solange der widerwärtige Weiberfreund verbreiten lässt, ich hätte Unzucht getrieben und sei von einem gewissen Medicus Nufer geschwängert worden, bist du hier sicherer als auf offener Straße. Nur Ludwig, meinem Bruder, hast du es zu verdanken, dass der Einfluss des Weiberfreundes begrenzt ist und du noch nicht gerädert und gepfählt wurdest.«
    Ich dachte über ihre Worte nach und sagte: »Wenn dein Bruder seine schützende Hand über mich hält, warum sorgt er nicht dafür, dass ich besser behandelt werde?«
    »So gern hat er dich nun wieder auch nicht.« Odilie küsste mich sanft. »Immerhin bist du der Fremde, der seine kleine Schwester in Schande gebracht hat. Ich habe mich ihm anvertraut und alles über uns erzählt, aber mehr als dein Leben garantieren wollte er nicht.«
    »Ich sterbe hier jeden Tag«, sagte ich bitter.
    »Aber es besteht Hoffnung.«
    »Hoffnung?«
    »Ja, mein Liebster, die Tage des Weiberfreundes sind gezählt.« Odilie griff in ihre Ledertasche am Gürtel und holte einen kleinen Hornkamm hervor. Sie begann, mir die Haare und den Bart zu glätten, und sagte: »Er hat nicht mehr lange zu leben. Ich weiß es genau, denn Ludwig hat Doktor Klosterfelde befohlen, ihn zu untersuchen. Die Diagnose ist unzweifelhaft, der Doktor hat es mir selbst gesagt. Und wenn der Weiberfreund erst tot ist, wird auch sein Einfluss erlöschen. Ich werde frei sein. Und du, mein Liebster, auch.«
    »Ja«, sagte ich, »wenn ich nur daran glauben könnte.«
    Odilie steckte den Hornkamm zurück in die Tasche und nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände. »Alles wird gut, das schwöre ich beim Leben unseres Sohnes.«
    »Unseres Sohnes? Um Gottes willen!« Ich fuhr hoch, so weit es meine Ketten zuließen. »An ihn habe ich überhaupt nicht gedacht! Lebt er? Geht es ihm gut? Wie sieht er aus? So sprich doch!«
    Odilie lächelte. »Ja, es geht ihm gut. Ich lasse es mir nicht nehmen, ihm selbst die Brust zu geben. Er gedeiht prächtig, und getauft ist er auch schon. Er heißt Philipp, nach seinem Großvater. Sein zweiter Name ist Lukas, nach seinem Vater.«
    »Philipp Lukas«, murmelte ich. »Philipp Lukas. Das klingt wundervoll. Ich glaube, alles, was ich gerade erlebe, ist gar nicht wahr.«
    Odilie lachte und küsste mich auf den Mund. »Halte nur noch ein wenig aus, mein Liebster. Ich muss dich jetzt verlassen. Aber wir sehen uns bald wieder, das verspreche ich dir.«
    »Ja«, sagte ich, »ja, ich liebe dich«, und schloss die Augen.
    Als ich sie öffnete, war Odilie verschwunden. Meine Prinzessin war verschwunden. Dafür war die Nacht hereingebrochen. Halbdunkel herrschte um mich herum, ich war zurück in der Unterwelt. Ich versuchte, das verwelkte Blatt vor mir zu erkennen, doch es gelang mir nicht. Hatte es jemals dort
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