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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg
Autoren: Wolf Serno
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praktisches Wissen zu haben, Herr Kollege.«
    »Ich habe einige Entbindungen erlebt«, murmelte ich abwesend, denn in Gedanken war ich schon bei der Untersuchung. Ich trat auf Odilie zu und begann mein Werk nach den Regeln der Kunst. Meine anfängliche Beklommenheit wich bald der notwendigen Konzentration. Ich benutzte alle meine Sinne, prüfte, horchte und tastete, ich tat es mehrmals und immer wieder, denn ich konnte nicht glauben, was der Zufall, das Schicksal oder der allmächtige Gott mir an Prüfung auferlegen wollte: Das Kindlein lag tatsächlich in einer geburtsunmöglichen Position, quer zum Leib und mit dem Rücken zum Bauch. Mein Atem ging schwer, meine Hände begannen zu zittern. Sollte sich das Drama wiederholen, das ich schon einmal bei Merle erlebt hatte?
    Ich blickte auf – und in die Augen von Doktor Klosterfelde. »Zu welchem Schluss seid Ihr gekommen?«, fragte er sanft.
    »Zu demselben wie Ihr.«
    »Und? Werdet Ihr operieren?«
    »Ich werde es müssen«, sagte ich tonlos. »Aber ich kann es nicht.«
    Dann fiel ich um.
    Ich erwachte, weil mir jemand einen Becher kaltes Wasser einflößte. Es war Doktor Klosterfelde. Ich verschluckte mich und hustete. Dann trank ich in langen Zügen.
    »Es scheint, als hättet Ihr tagelang nichts getrunken«, sagte Klosterfelde besorgt. »Nur gut, dass es Euch bessergeht.«
    »Ein kleines Unwohlsein«, krächzte ich.
    »Ihr neigt zur Untertreibung, Herr Kollege. Da Ihr nicht operieren wollt, habt Ihr sicher nichts dagegen, wenn ich der fürstlichen Familie Bescheid geben lasse, dass es mit der Prinzessin … zu Ende geht?«
    Ich richtete mich halb auf und sah, dass die Wehmütter Odilie aus dem Gebärstuhl gehoben und in das danebenstehende Bett gelegt hatten. Die Hände hatten sie ihr über der Brust gefaltet und ein kleines Kruzifix hineingegeben. »Nein!«, rief ich. »Nein, um Gottes willen, nein!«
    »Nein? Wie meint Ihr das, Herr Kollege?«
    »Ich werde operieren! Natürlich werde ich operieren!«
    »Gewiss, gewiss. So beruhigt Euch doch.«
    Tatsächlich besänftigte mich Klosterfeldes Stimme ein wenig. Ich erhob mich mit wackligen Beinen und ordnete meine Gedanken. Soeben hatte ich gesagt, dass ich operieren wollte, doch ich war keineswegs sicher, ob ich dazu in der Lage sein würde. Es war nicht irgendwer, an dem ich den Eingriff vornehmen wollte, es war Odilie. Odilie, die ich liebte und der ich, um alles in der Welt, keinen Schmerz zufügen mochte.
    Und doch: Es musste sein. Ich legte meine Hand auf ihren geschwollenen Leib und sagte: »Prinzessin?«
    Sie schien mich nicht zu hören. Nur um ihre Mundwinkel zuckte es wieder. Da wusste ich, dass sie mich verstanden hatte.
    »Prinzessin«, sagte ich abermals, »ich beginne jetzt mit der Operation.«
    Dann wandte ich mich an Klosterfelde. »Würdet Ihr mir assistieren, Herr Doktor?«
    »Ich werde mein Bestes tun, Herr Kollege.«
    »Ich danke Euch. Bitte reicht mir das Schermesser.«
    Klosterfelde gab mir das Messer, und ich verweilte für einige Augenblicke zwischen Odilies gespreizten Beinen. Ich schloss die Augen und betete, meine Gedanken würden so intensiv sein, dass sie auch unausgesprochen Odilie erreichten. Kleine Prinzessin, dachte ich, am liebsten würde ich dir den Schlafbefehl geben, aber du weißt, er wirkt nur bei denen, die mir nicht nahestehen. Dich aber liebe ich mehr als mein Leben. Du und ich, wir haben gemeinsam schon viele Widrigkeiten durchgestanden, wir werden es auch diesmal schaffen. Aber ich werde dir weh tun müssen. Du weißt, ich würde mir lieber die Hand abhacken, als dir weh zu tun, aber es geht nicht anders. Das Kindlein ist dickköpfig und will nicht hinaus. Wahrscheinlich hat es den Dickkopf von mir. Ich beginne jetzt. Was immer gleich geschieht, vergiss nie, dass ich dich liebe …
    Ich begann, die Schamhaare zu entfernen, reinigte die Operationsfläche und konzentrierte mich nur auf meine Arbeit. Als ich die erste Inzision vornahm, hatte ich vergessen, dass Odilie vor mir lag. Ich sah nur noch mein Skalpell, das Skalpell, von dem Hartmut, der alte Schmiedegeselle, einst gesagt hatte, es stünde unter einem guten Stern. Ich sah Haut, Gewebe, Fleisch, Muskeln. Ich sah Blut und Schleim. Ich setzte die Schnitte, teilte, spreizte, forschte, fühlte, ertastete den kleinen Wicht, drehte ihn, sprach auf ihn ein, sprach auf Odilie ein, redete pausenlos, um sie zu beruhigen, um mich zu beruhigen. Ich weiß nicht, wie lange ich brauchte, aber irgendwann zog ich das Kindlein
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