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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg
Autoren: Wolf Serno
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ihm: »Ich habe Odilie, die Schwester Seiner Königlichen Hoheit, des Kurfürsten Ludwig, operiert. Sie ist seine Lieblingsschwester, und ich muss Seiner Hoheit berichten, wie der Eingriff verlaufen ist. Also bring mich zu ihm.«
    Es war kein sonderlich gescheiter Versuch, meine Lage zu verbessern, und die Reaktion des Kerkerknechts fiel dementsprechend aus. Mit einem verächtlichen Schnaufen rückte er den Essensnapf ein Stück von mir fort und verschwand.
    Ich ärgerte mich über mich selbst. Mein Vorwand, das Verlies verlassen zu müssen, war so fadenscheinig gewesen, dass selbst der primitive Knecht ihn sofort durchschaut hatte. Aber etwas Besseres war mir nicht eingefallen.
    Unwillkürlich bewegte ich die Arme, und ein neuer Schmerz durchzuckte meine Handgelenke. Ich stöhnte auf. Dann saß ich wieder still. Ich spürte Hunger, trotz alledem. Den Napf konnte ich nicht sehen, aber ich wusste, wo er stand. Ich beugte mich vor und stellte fest, dass ich mit den Lippen nicht herankam. Ich streckte mich so lang wie möglich, aber ich erreichte ihn nicht. Vielleicht fehlte nur ein Zoll. Es war einerlei. Es hätten auch hundert Zoll, hundert Fuß oder hundert Meilen sein können. Ich kam nicht heran. Der Kerkerknecht, dieser boshafte Dreckskerl! Ich heulte vor Wut, aber es nützte nichts. Ich kam nicht heran.
    Am anderen Morgen erschien er wieder, blieb vor dem Napf stehen und sagte mit hämischem Grinsen: »Du hast ja gar nichts gegessen? Na, dann eben nicht.« Er nahm den Napf mit der Suppe und verschwand.
    Ich sagte nichts. Es war klüger so.
    Beim nächsten Mal stellte er einen neuen Napf vor mich hin. Diesmal in meiner Reichweite. Ich sagte immer noch nichts. Aber ich machte mich mit Heißhunger über die Suppe her. Ich aß wie ein Schwein, schluckte und schmatzte und verschüttete die Hälfte, und als ich fertig war, erleichterte ich mich. Ich rückte dabei so weit wie möglich vor, um anschließend nicht in meinem eigenen Dreck sitzen zu müssen. Niemand sah mich, trotzdem war es das Widerlichste und Demütigendste, was ich je erlebt hatte.
    Wieder kam der Kerkerknecht. Er machte meinen Dreck weg und tauschte den leeren Napf gegen einen vollen aus.
    Er kam und ging. Kam und ging …
    Anfangs versuchte ich noch, die Tage zu zählen, aber nach einiger Zeit gab ich es auf. Es spielte keine Rolle, wie viele Tage ich schon im Verlies schmachtete. Es spielte keine Rolle, ob es Tag oder Nacht war. Alles war gleich. Es war einerlei, ob ich betete oder fluchte, redete oder schwieg, hungerte oder aß. Alles war gleich. Odilie war fern, und ich war hier. Odilie, wo magst du in diesem Augenblick sein? Denkst du an mich? Hältst du dein Kind im Arm? Unser Kind?
    Odilie, hörst du mich? Lebst du überhaupt noch? Merle hat die Operation nicht überlebt. Verflucht seien meine Hände! Elisabeth Alespachin, meine Stiefmutter, hat überlebt. Und Elias ebenso. Und Jonas. Aber es war Vater, der sie operierte. Vater, wie geht es dir? Elisabeth, wie geht es dir? Odilie, wie geht es dir?
    Lebst du wirklich noch, obwohl nicht Vater, sondern ich dich operiert habe?
    Ich bin so einsam! Ich habe Schmerzen! Ich habe Hunger!
     
    Eine Zeit tiefster Schwermut folgte. Manchmal dachte ich, dass Luther mit seinen Trübsinnsanfällen ein fröhlicher Mensch gegen mich gewesen war. Luther. Er würde an meiner Stelle viel mehr beten …
    Ich konnte nicht mehr beten. Ich konnte überhaupt nichts mehr. Meine Verzweiflung war manchmal so groß, dass ich meinen Kopf gegen die Wand schlug, bis der Schmerz mich innehalten ließ. Der Schmerz brachte mich zur Besinnung. Und ich dachte: Er ist eine Art Geißelung. Aber hast du Grund, dich zu geißeln, hast du gesündigt?
    Jeder Mensch sündigt, jeden Tag, hätte Luther mir geantwortet. Aber wie kann ich sündigen, wenn ich angekettet in einem Verlies stecke …?
    Helles Licht durchflutete mein Verlies. Zwei menschliche Umrisse standen in der Tür. Der Kerkerknecht war nicht dabei. Kam da jemand, mich zu befreien? Ich blinzelte. Dann hörte ich eine Stimme: »Seid Ihr’s, Herr Medicus?«
    »Ja«, krächzte ich. Es war seit Tagen das erste Wort, das ich sprach.
    »Jesus und Maria, Ihr seid’s tatsächlich. Hätt nich mehr geglaubt, dass Ihr noch lebt.«
    »Heddi?«
    »Erraten, Herr Medicus. Da staunt Ihr, was. Un das is Meister Karl. Er wollte unbedingt mit.«
    Meister Karl trat ins Licht und schmunzelte vor Freude.
    Ich war so schwach und so gerührt, dass mir die Tränen kamen. Ich wollte nicht weinen,
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