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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg
Autoren: Wolf Serno
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wie ihr Lebensfunke mehr und mehr erlosch.
    Ich hatte so etwas schon einmal erlebt. Drei Jahre zuvor, anno 1497 . Hier, in derselben Stube. Nur dass damals nicht Elisabeth Alespachin in dem Bett gelegen hatte, sondern meine leibliche Mutter. Sie war an einem Kopffieber erkrankt. Einem Leiden, so tückisch wie der Teufel selbst. Und genau wie heute war Alphons Wyss, der Wundarzt, aus Hugelshofen gerufen worden. Er hatte die Krankheit als Hirnwut bezeichnet und von einer
inflammatio
gesprochen. Hatte weitere lateinische Ausdrücke vor sich hin gemurmelt. Hatte kalte Umschläge und aufgekochte Weidenrinde verordnet und eine Reihe anderer Arzneien empfohlen. Aber genützt hatte das alles nichts. Meine Mutter war heißer und immer heißer geworden. Und noch am selben Tag verglüht.
    Wartete ein ähnlich armseliger Tod auf meine Stiefmutter? Ich hatte große Angst davor, denn obwohl Elisabeth, wie ich sie nannte, mich nicht großgezogen hatte, stand sie mir doch nahe. Sie war eine Frau der Berge, von natürlichem Wesen und ansteckender Fröhlichkeit. Vor zwei Jahren bei einem Dorffest war es gewesen, als sie mit ihrer gewinnenden Art das Herz meines Vaters eroberte – und meines gleich dazu. Ein halbes Jahr später wurde Hochzeit gefeiert. Und nun sollte Elisabeth, die starke, fröhliche Elisabeth, schon bei der Niederkunft ihres ersten Kindes sterben? Ich konnte, ich wollte es nicht glauben.
    In meine Gedanken hinein öffnete sich die Tür. Vater stand auf der Schwelle. Er trug Reisemantel und Reitstiefel. »Komm, Lukas«, befahl er, »wir reiten nach Frauenfeld.«
     
    Nach langem, scharfem Ritt kamen wir glücklich in Frauenfeld an. »Unserer lieben Frauen Feld« hatte man das der Muttergottes geweihte Fleckchen Erde einst genannt und eine Kirche daraufgesetzt. Die Kirche stand noch, wenn auch vom Zahn der Zeit verwittert. Sie befand sich in der Mitte des Ortes und war von ein paar Dutzend Häusern und Höfen umgeben. Es waren stabile Gebäude, sämtlich aus dem Holz der nahegelegenen Wälder gezimmert. Das einzige Haus mit steinernen Grundmauern und gläsernen Fenstern war das Haus des alten Prälaten Konrad Bindschedler. Zu ihm wollte mein Vater.
    Der Küster, der die Knechtkammer des Hauses bewohnte, ließ uns ein. Bindschedler saß in der großen Stube am Ofen, las in der Heiligen Schrift und wärmte sich die Füße in einem Sack aus Lammfell. Man schrieb bereits den vierundzwanzigsten März, aber die Tage waren noch immer kalt.
    Vater entbot die Tageszeit, senkte den Kopf und schlug das Kreuz. Mechanisch tat ich es ihm nach.
    »Was führt euch zu mir?« Bindschedlers Stimme klang, als käme sie aus dem Sumpf. Auch sein Gesicht glich in Form und Farbe dem einer Kröte. Doch abgesehen von seinem wenig ansprechenden Äußeren, galt er als glaubensstarker Gottesmann. Streng im Wort, aber gütig im Herzen. Ich musste es wissen, denn ich hatte in den vergangenen sechs Jahren die Frauenfelder Lateinschule besucht, deren Leiter er war.
    Vater bat um Entschuldigung, dass er so unverhofft hereinplatze, aber ein dringlicher Grund führe ihn hierher. Seine Frau läge seit mehreren Tagen in den Wehen, doch das Kind wolle nicht kommen. Der Kreißenden drohe der baldige Tod.
    Bindschedler riss die Augen auf. »Das ist, bei Gott, eine Hiobsbotschaft! Bist du sicher, dass es zu Ende geht?«
    »Ja, Euer Gnaden.«
    »Nun, nun. Wir alle müssen uns dem unerfindlichen Ratschluss des Herrn beugen. In guten wie in schlechten Tagen. Willst du, dass ich dich nach Siegershausen begleite und deiner Frau die Sterbesakramente erteile?«
    »Nein, Euer Gnaden.«
    »Was willst du dann? Steht es ähnlich schlimm um das Kind? Muss Taufwasser in den Geburtskanal der Mutter gespritzt werden, damit es vor seinem Tod noch den Bund mit Gott eingehen kann?«
    »Nein.« Vater suchte nach Worten. »Ich möchte mich nur Gottes Beistand versichern, wenn ich den Leib meiner Frau öffne und das Kind heraushole.«
    »Eine Schnittentbindung? Bist du von Sinnen?«
    »Nein, Euer Gnaden, ich habe es mir genau überlegt. Ihr wisst, dass ich mein Brot als Schweinekastrator verdiene. Bei dieser Arbeit habe ich die Anatomie des Viehs genau kennengelernt. Ich traue mir zu …«
    »Willst du den Körper deiner Frau mit einer Sau vergleichen?«
    Vater fiel auf die Knie. Während ich hastig seinem Beispiel folgte, hörte ich ihn sagen: »Bitte, vergebt mir, aber meine Kenntnisse der Anatomie rühren nicht allein von meiner Arbeit als Kaponenmacher her. Ich habe im
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