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Eine Eule kommt selten allein

Titel: Eine Eule kommt selten allein
Autoren: Charlotte MacLeod
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Kapitel 1

    Professor Peter Shandy erspähte sie als erster, was niemanden sonderlich wunderte. Es gab so gut wie nichts, was dem berühmten Experten für Nutzpflanzenzucht am Agricultural College von Balaclava entging. »Sägekauz«, flüsterte er.
    »Zwergohreule.« Selbst das leiseste Raunen von Doktor Thorkjeld Svenson erinnerte bereits an das Grollen wütender Trolle in unermeßlich tiefen Berghöhlen, in die kein Sterblicher je einen Fuß gesetzt hatte.
    »Zu klein. Keine Ohrbüschel.« Professor Winifred Binks, die erst seit kurzem den Lehrstuhl für hiesige Fauna innehatte, ließ sich auch vom College-Präsidenten höchstpersönlich nicht einschüchtern. Sie nahm zum ersten Mal an der traditionellen Eulenzählung in Balaclava teil und sah darin eine willkommene Gelegenheit, dem Namen Binks, der ohne ihr Verschulden eine grünliche Patina bekommen hatte, wieder ein wenig aufzupolieren.
    »Vielleicht ist es eine junge Zwergohreule, der noch keine Ohrbüschel gewachsen sind?« Emory Emmerick gehörte nicht zur Fakultät, und niemand wußte so recht, wie er es geschafft hatte, sich ausgerechnet dieser erlauchten Eulenzählmannschaft anzuschließen. »Oder vielleicht auch ein Rauhfußkauz?«
    Seine Bemerkung wurde mit dem gebührenden Schweigen quittiert. Der kleine Vogel klärte die Angelegenheit schließlich selbst, indem er statt des jammernden Klagelauts der Zwergohreule oder der eigenartigen Rufe des Rauhfußkauzes, die an tropfendes Wasser erinnerten, einen leisen, rauhen, zweisilbigen Schrei ausstieß. Svenson gab klein bei.
    »Schon gut, Binks, Sägekauz. Schreiben Sie es auf, Shandy. Jessas, schaut euch das an!«
    Der strahlend blaue Oktobertag war einer frischen Herbstnacht gewichen. Hier in den Wäldern hinter dem Campus lag das herabgefallene Eichen- und Ahornlaub knöchelhoch. Tief am Himmel stand der schon nicht mehr ganz volle Herbstmond, der immer wieder von tief treibenden grauen Wolkenfetzen verdeckt wurde. Momentan war die riesige orangefarbene Scheibe jedoch klar zu sehen, genau wie das gefiederte Wesen in geisterhaftem Weiß, das riesig und lautlos vor dem Antlitz des Nachtgestirns herumflatterte.
    »Nyctea scandiaca«, krächzte Professor Stott, seines Zeichens Leiter des Fachbereichs Haustierhaltung und größter Eulenspezialist von allen.
    »Präsident, das ist doch völlig unmöglich! Die Schnee-Eule ist ein arktischer Tagvogel und lebt für gewöhnlich in Sümpfen und Wiesengebieten. In den Wintermonaten kann man Schnee-Eulen vielleicht in Maine oder Minnesota finden, doch so weit südlich wie bei uns nur in Ausnahmefällen, beispielsweise wenn sie durch sinkende Lemmingpopulation in ihren natürlichen Jagdgebieten gezwungen sind, sich in andere Regionen zu begeben. Und ich weiß aus sicherer Quelle, daß es in diesem Jahr in Kanada Lemminge im Überfluß gibt.«
    »Dann war das, was wir gerade gesehen haben, vielleicht lediglich die weiße Unterseite einer besonders großen Schleiereule?« mutmaßte Professor Binks.
    Stott schüttelte den Kopf, langsam und bedächtig, denn er ließ sich mit seinem Urteil gern etwas Zeit. »Eine Schleiereule war es auf keinen Fall. Eine Schleiereule hätte ich sofort erkannt. Schließlich sind Scheunen und Ställe auch mein natürliches Biotop.« Gelegentlich konnte selbst Stott einen Anflug von Humor entwickeln.
    »Könnte es nicht vielleicht eine Sumpfohreule sein?«
    Auch dieser unqualifizierte Einwurf stammte natürlich wieder von Emmerick und wurde mit Mißachtung gestraft, denn erstens war der Vogel viel zu groß und zweitens viel zu weiß gewesen.
    »Vielleicht war es Loki.«
    Dr. Svenson hegte eine große Leidenschaft für altnordische Mythologie, was seine Scherze oft rätselhaft und obskur erscheinen ließ. Emmerick, der gerade erst die Bekanntschaft der prächtigen College-Zugpferde gemacht hatte, die samt und sonders nach altnordischen Göttern und Göttinnen benannt waren, verstand ihn prompt falsch.
    »Ich dachte, Loki sei einer Ihrer Balaclava Blacks.«
    Wieder wurde er vom Rest der Gruppe ignoriert. »Interessante Idee, Präsident«, murmelte Winifred Binks. »Loki konnte seine Gestalt verändern, nicht wahr? Hat er sich nicht sogar einmal in eine Frau verwandelt?«
    »In eine Stute. Ist dabei von einem Hengst namens Svadilfari gebumst worden, als er versucht hat, einen Felsenriesen zu beschwatzen, damit dieser die Mauer von Asgard umsonst wiederaufbaute. Geschah ihm recht. Hat ein achtbeiniges Fohlen geboren und es Odin geschenkt...
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