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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg
Autoren: Wolf Serno
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antworten: »Nein, deine Assistenz war beileibe nicht schlecht. Obwohl ich kurz vor dem Einschnitt dachte, du hättest wieder einmal von deiner seltsamen Fähigkeit Gebrauch gemacht. Du weißt schon, was ich meine. Du siehst dann aus, als würdest du träumen, und steckst mit deiner Träumerei die anderen an. Ich sage dir, das ist Teufelswerk. Nur gut, dass Elisabeth den Eingriff auch so überstanden hat.«
    »Ja, Vater.« Ich sagte zu dem Vorwurf nichts, aber ich wusste, dass ich entgegen Vaters Meinung meine Stiefmutter sehr wohl in Schlaf versetzt hatte: mit einer Kraft, die ich ein paar Jahre zuvor zum ersten Mal an mir entdeckt hatte. Ausgerechnet bei der Heuhoferin, einer zänkischen Alten, die den lieben langen Tag auf der Bank vor ihrer Hütte saß und die Kinder beschimpfte. Sie waren ihr zu laut, wenn sie spielten. Besonders die kleine Resi. Sie rief Resi zu sich und versetzte ihr eine kräftige Maulschelle. Resi weinte. Da Resi meine Freundin war, musste ich ihr beistehen. Ich streckte der Heuhoferin die Zunge raus und rief, sie sei eine böse, alte Hexe. Da wollte sie auch mich schlagen. Fortlaufen konnte ich natürlich nicht, weil Resi mich dann für einen Feigling gehalten hätte. Also entschuldigte ich mich hastig und redete auf die Alte ein. Was, das weiß ich nicht mehr. Nur noch, dass ich sie zu beruhigen versuchte. Ich sah ihr in die Augen und sagte mit schmeichlerischen Worten, sie sei gar keine Hexe, ich hätte mich geirrt. Sie sei ein liebes Mütterchen, und wir Kinder würden sie alle sehr gern haben. Tatsächlich wurde sie ruhiger, aber ich traute dem Frieden nicht. Am liebsten hätte ich sie gebeten, im Haus zu verschwinden, damit wir weiter spielen konnten. Doch das ging natürlich nicht. Deshalb sagte ich zu ihr: »Heuhoferin, mach doch ein Nickerchen. Ein erholsames, entspannendes Nickerchen. Gleich jetzt. Das wird dir guttun. Schlafe ein, schlafe ein …« Und während ich das sagte, sah ich, dass ihr der Kopf langsam auf die Brust sank. Ich war erstaunt, weil sie tatsächlich tat, was ich ihr vorgeschlagen hatte, und redete rasch weiter: »Schlafe, schlafe tief, damit wir spielen können und dich nicht länger stören, schlafe, schlafe, schlafe, und nachher will ich dich wieder wecken.«
    So war es gewesen. Vater, dem ich danach alles erzählte, sagte, so etwas gäbe es nicht, und wenn, dann ginge es nicht mit rechten Dingen zu. Ich solle zu niemandem darüber reden. Schon gar nicht zu dem alten Prälaten Bindschedler, denn die Kirche lasse bei so etwas nicht mit sich spaßen. Ich versprach es ihm und hielt mich daran, doch ein paar Tage später war ich einfach zu neugierig und probierte meine neue Fähigkeit abermals aus. Diesmal an Resi, im Schuppen hinter dem Haus. Auch Resi schlief sofort ein, als ich sie darum bat, und alles wäre gut gewesen, wenn Vater nicht plötzlich dazugekommen wäre. Es hatte ein gehöriges Donnerwetter gesetzt und sogar ein paar Schläge. »Hatte ich dir nicht befohlen, den Unsinn mit dem Schlafbefehl zu lassen!«, rief er. »Was ist, wenn das arme Ding nicht wieder aufwacht?«
    »Sei unbesorgt, Vater«, hatte ich geantwortet, denn ich war sicher, Resi würde genau das tun, wenn ich es nur wollte. Kurz danach schlug Resi die Augen wieder auf und wunderte sich, dass mein Vater vor ihr stand. Von seinem Zornesausbruch hatte sie nichts bemerkt.
    Seitdem hatte ich mich an Vaters Gebot gehalten. Bis zu diesem Tag, da ich sicher war, meine Stiefmutter würde die Operation im Schlaf besser ertragen. Dennoch schien es mir klüger zu sein, nichts davon zu erwähnen, schon gar nicht, weil ich Vater die Erlaubnis zum Studium abringen wollte. Doch was konnte ich noch sagen? Da kam mir ein Einfall. »Jetzt, wo Elias da ist, könnte er es doch sein, der dein Nachfolger wird«, sagte ich. »Und ich könnte nach Basel gehen.«
    Mein Vater stutzte. An diese Möglichkeit hatte er noch nicht gedacht. »Elias?«, fragte er.
    Wie auf ein Stichwort erschien in diesem Augenblick meine Stiefmutter in der Tür. Sie hielt meinen kleinen Bruder auf dem Arm und sagte: »Hattest du ›Elias‹ gesagt, Jacob? Hier ist er. Er hat gerade getrunken, ist satt und schläft. Willst du ihn nehmen?« Und sie legte meinem Vater den Kleinen in die Armbeuge.
    »Elias«, flüsterte Vater beglückt und wiegte ihn sanft hin und her. »Er ist wahrhaftig ein kleiner Prachtkerl.«
    Meine Stiefmutter lachte leise. Dann sah sie zu mir herüber, denn ich war aufgestanden, um die Stube zu verlassen. »Nanu,
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