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Bis Sansibar Und Weiter

Titel: Bis Sansibar Und Weiter
Autoren: authors_sort
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Erstes Kapitel
    W enn einer Marius Dick heißt, sollte er einen gut sichtbaren Bauch haben. Oder wenigstens einen knackigen Po in der Hose. Aber ich bin so dünn, dass man auf meinen Rippen Klavier spielen kann. Behauptet meine Oma. Vierzig Kilo verteilt auf einen Meter sechzig. Macht genau 250 Gramm pro Zentimeter.
    Meine Mutter heißt Irene Dick. Anders als bei mir passt der Name zu ihr. Und wie! Neunzig Kilo Lebendgewicht verteilt auf einen Meter siebzig. Macht ungefähr 500 Gramm pro Zentimeter. Oder für Matheexperten und sonstige Freaks: 529,4 117647 Gramm und so weiter und so weiter. Klavierspielen ist da nicht. Zumindest nicht auf den Rippen.
    Mein Vater hieß Dieter Dick. Aber alle nannten ihn nur DD. Er ist beim Kirschenpflücken vom Baum gestürzt. Von ganz oben aus der Krone mit vollem Karacho durch genau sieben Äste. Ich war im Kindergarten, als der Unfall passierte. Seitdem hängt DDs Bild am Baum hinterm Komposthaufen. Mama sagt, sie hatmeinen Vater gewarnt, die Kirschen ohne Leiter zu ernten. Immerhin brachte er damals ein Gewicht von einhundertfünfzig Kilo auf die Waage. Nackt und ohne Schuhe.
    Eigentlich erinnere ich mich kaum an ihn. Aber ich weiß, dass ich mich in DD verkriechen konnte wie in einem großen Wackelpudding. Dass er eine Stimme wie ein Lastwagenmotor hatte. Und dass er nach Rasierwasser roch. Hätte sich der Blödmann nicht das Genick gebrochen, hätte er mir bestimmt früh Schwimmen beigebracht. Er spielte in einer Wasserballmannschaft im Tor und war mit seinem Team fünfmal hintereinander aufgestiegen, das letzte Mal kurz vor seinem Tod. DD war fast zwei Meter groß und genauso breit. Kein Wunder, dass die gegnerischen Spieler nicht an ihm vorbeikamen. Schon als Kind habe er quadratisch ausgesehen, behauptet meine Oma.
    Anders als mein Vater finde ich Sport langweilig. Und Wasserball sowieso. Stattdessen interessiere ich mich, seit ich denken kann, für Zahlen. Bereits im Kindergarten konnte ich locker bis Tausend addieren und noch vor meinem achten Geburtstag dreistellige Zahlen im Kopf multiplizieren. Zum Beispiel 727 mal 456 (für ganz Eilige – das macht 331512). Die Lehrerinnen in der Grundschule sahen in mir so was wie einen Außerirdischen. Sie haben mich zuerst ins zweite und dann gleich ins vierte Schuljahr gesteckt – allerdings nur in den Stunden, in denen ich Rechnen hatte. In den anderen Fächern bin ich nicht so toll. Seit ich auf dem Gymnasiumbin, mache ich in einer Mathe-AG für die Oberstufe mit. Bis auf ein Mädchen aus der 12 rechne ich dort alle an die Wand. Ehrlich und ungelogen.
    Neben meiner Leidenschaft für Mathe habe ich noch eine andere. Ich mag alles, was rund ist. Besonders runde Mädchen. Der kleine Psychologe in mir sagt: Ist doch logisch, Mann. Deine Mutter ist kugelrund, dein Vater war kugelrund. Kein Wunder, dass du Bock auf Kurven hast.
    Da war zum Beispiel Valery. Die anderen haben sich über sie lustig gemacht. Sie haben einen Wal an die Tafel gezeichnet und »WALery frisst wie noch nie« daneben geschrieben. Obwohl ich nicht wollte, habe ich mitgelacht. Nicht besonders laut, aber immerhin. Hätte ich es nicht getan, hätten sie bestimmt rausbekommen, dass ich auf runde Mädchen stehe. Dann hätte ich mich selbst an der Tafel wiedergefunden. Vielleicht als kleiner Fisch, der einen großen Wal küsst.
    Mann, ich war so verknallt in Valery, dass ich kein einziges Mal mit ihr geredet habe. Es ging einfach nicht. Ich hatte Angst, mir versagt die Stimme oder ich mache mir in die Hose oder ich falle vor Aufregung tot um. Darauf konnte ich verzichten, echt. Ein Todesfall in der Familie reicht. Valery hat übrigens nach der Fünften die Schule gewechselt. Ich habe sie nie mehr wiedergesehen.
    Meine Mutter ist nicht nur rund, sie ist auch ein bisschen langsam. Leute, die sie nicht so gut kennen wie ich, sagen, sie ist dumm. Früher bin ich deswegen stinkwütendgeworden, inzwischen habe ich mich dran gewöhnt. Denn in Wirklichkeit ist Mama überhaupt nicht dumm. Sie braucht einfach ein bisschen länger, bis sie was kapiert. Bloß mit Zahlen lässt man sie besser in Frieden, mit Zahlen hat sie wirklich ein Problem. Mama leidet nämlich an einer so genannten »Rechenschwäche«, das hat sie sogar schriftlich. Im Lexikon habe ich dafür das Wort »Dyskalkulie« gefunden. Ich finde, »Zahlenblindheit« klingt viel schöner. So nannte man es früher.
    Weil meine Mutter nach DDs Tod irgendwann den Überblick über unsere Finanzen verlor, habe ich die
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