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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg
Autoren: Wolf Serno
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aber ich konnte es nicht verhindern. »Meister Karl«, flüsterte ich.
    Meister Karl bückte sich, legte mir die Hand auf die Schulter und nickte mehrmals. Es sollte wohl aufmunternd wirken, aber ihm traten ebenfalls die Tränen in die Augen. Dann holte er eine köstlich duftende Wurst aus der Tasche. Ich sah, wie er sie mit seinen klobigen und doch so zarten Händen in Scheiben schnitt und die erste an Heddi weiterreichte, die sie mir in den Mund steckte.
    Ich kaute gierig, schluckte und kaute. »Danke«, krächzte ich mit vollem Mund, »danke, meine Freunde.«
    »Puh, ’s war gar nich so leicht, den Kerkerknecht rumzukriegen, dass er uns reinlässt.« Heddi kicherte vielsagend. »Aber ich hab ihm schöne Augen gemacht un bin mit ihm ’ne Weile auf seine Wachstube. Na ja, mit Speck fängt man Mäuse, nich?«
    Ich sagte nichts, ich genoss den überwältigenden Geschmack der Wurst.
    Heddi schob mir ein weiteres Stück in den Mund und fuhr fort: »Da staunt Ihr, dass wir Euch besuchen, was? Aber ’s ging nich früher. Wenn der Spitalmeister Waldseer nich gewesen wär, hätten wir Euch überhaupt nich besucht. Der Waldseer sollte einem Boten vom Schloss Euer Skalpell geben, un Meister Karl war dabei un hat mitgekriegt, wie Waldseer den Boten ausgequetscht hat, wo Ihr seid un worum es geht un überhaupt. Erst wollte der Kerl nich mit der Sprache raus, aber dann hat er doch geplappert. Un dann is Meister Karl mit der Nachricht vom Waldseer zu uns in die Große Mantelgasse gekommen, weil Muttchen ja nach Euch gefragt hatte un sich Sorgen gemacht hat. Wir alle haben uns Sorgen gemacht, nich, Meister Karl?«
    Meister Karl nickte ernst.
    Heddi stopfte die nächste Scheibe Wurst in mich hinein und fuhr fort: »Is schon ’ne Weile her, das Ganze, aber wie gesagt, früher hat’s nich geklappt, aber jetzt sin wir da, un ich soll auch schön von Muttchen grüßen.«
    »Ja«, murmelte ich. »Danke. Wie geht es Schnapp?«
    »Schnapp geht’s so weit gut, Herr Medicus. In der ersten Zeit, wo Ihr weg wart, hat er nich gefressen, wurde immer dünner, der arme Kerl, aber dann hat Meister Karl ihm ’n altes Hemd von Euch gegeben, un da hat er dran geschnuppert un mit’m Schwanz gewedelt. Un seitdem liegt er darauf, un seitdem frisst er auch wieder.«
    »Gott sei gelobt. Ich vermisse ihn sehr.«
    »Ich un Meister Karl, wir gehen manchmal mit ihm spazieren, nich, Meister Karl?«
    Meister Karl nickte.
    Ich blickte ihn an und fragte: »Und wie geht es Fischel und seiner Familie?«
    Meister Karl nickte ein paarmal und lächelte.
    »Gut? Das beruhigt mich. Ich bin Euch so dankbar, dass Ihr hergekommen seid.«
    Heddi sagte: »’s war doch Ehrensache, Herr Medicus, aber nun müssen wir gehen, sonst kriegt der Kerkerknecht Ärger, hat er gesagt.«
    »Jaja, natürlich«, murmelte ich.
    Als hätte man ihn gerufen, tauchte der Knecht in diesem Augenblick auf und forderte meine Besucher mit einer herrischen Geste auf, ihm zu folgen.
    »Kopf hoch, Herr Medicus«, sagte Heddi beim Hinausgehen. »Muttchen hat gesagt, ich soll Euch sagen, es wär noch nich aller Tage Abend, ’s würd schon irgendwie weitergehen mit Euch.«
    Meister Karl winkte mir zum Abschied zu.
    Dann waren beide verschwunden.
    Was blieb, waren Finsternis und Stille. Und das wunderbar tröstende Gefühl, dass meine Freunde mich nicht vergessen hatten. Ich lehnte den Kopf gegen die kühle Turmwand und gab mich den guten Gedanken hin. Später kam der Kerkerknecht noch einmal und stellte den üblichen Napf schleimiger Suppe vor mir ab.
    Ich ließ ihn stehen. Ich hatte die köstliche Wurst von Meister Karl gegessen und würde die Suppe nicht anrühren.
    Bald darauf schlief ich ein, und ich schlief zum ersten Mal tief und fest.
     
    Mein Hochgefühl hielt nicht lange vor. Die quälenden Gedanken kehrten zurück, als hätten sie mich niemals verlassen. Ich fragte mich, welches Datum man schrieb, und ich haderte mit mir, dass ich es versäumt hatte, Heddi danach zu fragen.
    Ich fragte den Kerkerknecht, aber ich bekam keine Antwort. Ich versuchte nachzurechnen, aber es gelang mir nicht. Saß ich schon einen, zwei oder drei Monate im Kerker?
    Der Gedanke, es nicht zu wissen, quälte mich. Dann wieder sagte ich mir, dass es mir einerlei sein könne, ich würde ohnehin bald sterben. Sterben. Für immer schlafen. Für immer Ruhe haben, das erschien mir in höchstem Maße begehrenswert.
    Warum lebte ich eigentlich noch? War es die schleimige Suppe, die ich aß und die mich nicht sterben
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