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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg
Autoren: Wolf Serno
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ließ? Ich verschmähte sie für ein paar Tage, nur, um sie anschließend umso heißhungriger zu verschlingen. Wollte ich leben? Wollte ich sterben? Allmächtiger im Himmel, warum hast du mir einen so widerstandsfähigen Körper geschenkt?
    Ich saß in meinem eigenen Dreck und Urin und weinte vor Verzweiflung. Wenn der abscheuliche Knecht mich demütigen wollte, ließ er meine Ausscheidungen zwischen meinen Beinen liegen. Und er wollte mich oftmals demütigen. Immer wieder kam er, um mich zu demütigen, und immer wieder ließ er mich allein. Ich fragte ihn nach seinem Namen, aber er schwieg.
    »Hier, dein Fraß!«, knurrte er manchmal. Es war das Einzige, was er sprach. Immer nur: »Hier, dein Fraß!« Ansonsten war er stumm wie ein Grab. Ich war sicher, dass man ihm das Sprechen verboten hatte.
    Schweigen ist auch eine Folter, dachte ich. Die Wörter, die man gegen das Schweigen spricht, prallen wie gegen eine Wand und fallen verletzt zu Boden. Wörter, Sätze, Bitten, Flüche. Alles fällt zu Boden. Es tut sehr weh. Der Knecht behandelt mich wie einen Toten. »Wenn du mich schon wie einen Toten behandelst, bring mir nichts mehr, denn Tote essen und trinken nicht!«, rief ich, so laut ich konnte. »Bring mir kein Brot, kein Wasser, keine schleimige Suppe. Nie wieder schleimige Suppe, hörst du? Lass mich verrecken!«
    Ließ er mich verrecken? Ja, ich war tot. Nein, ich war nicht tot. Etwas kitzelte mich an der Wange. Ich konnte mich nicht kratzen, ich musste meine Wange an der Turmwand reiben. Aber es kitzelte in einem fort. Ein Tier? Ein Insekt? Ich rieb meine Wange wieder und wieder, und irgendwann merkte ich, dass mir ein Bart gewachsen war. Ich hatte niemals einen Bart getragen. Immer war es mir vorgekommen, als trügen nur alte Männer einen Bart. Jetzt war auch ich ein alter Mann. Ein alter Mann, der Wanzen hatte. Ich merkte es an dem Juckreiz, der meine Arme und Beine befiel. Schlimmer noch als der Ekel war die Hilflosigkeit, mit der ich den Juckreiz ertragen musste. Eine besonders große Wanze huschte an meinen Füßen entlang. Es war eine Ratte.
    Eine Ratte? Unsinn, Schnapp war es, der mich besuchte. He, Schnapp, mein Großer, du hast mir so gefehlt, komm, ich streichele dich mit meinen Füßen. Ich habe dich immer mit meinen Füßen gestreichelt. Erinnerst du dich? Ach, mein großer, guter Schnapp. Nein, wir können jetzt nicht hinausgehen, du darfst nicht auf die Straße machen, draußen herrscht die Pest, und Hunde dürfen nicht auf die Straße. Ach was, ich werde den Pestanzug anziehen. Warte, ich werde den Pestanzug anziehen, der Anblick des Anzugs wirkt Wunder, du wirst sehen. Kleider machen Leute,
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ach, du kannst ja kein Latein.
    Wieso kannst du eigentlich kein Latein? Weil du ein Hund bist und kein Wolf. Für jeden Wolf gibt es einen Hieb, wusstest du das? Der Wolfszettel gibt darüber Auskunft. Der Magister Engelhuss hat ihn geschrieben, und ich habe ihn dafür getötet. Es war keine Absicht. Oder war es doch Absicht? Ein ganz klein wenig? Ich weiß es nicht mehr. Habe ich die Tat eigentlich gebeichtet? Nein, nie. Ist meine Kerkerhaft die Strafe Gottes dafür? Ich muss beichten …
    Verwirrt sah ich auf meine Hand, die liebevoll durch die Luft strich. Die Bewegung hatte etwas Lächerliches, denn Schnapp war nicht da. Alles war nur Einbildung gewesen. Ich trat nach der Ratte und traf sie nicht. Ich trat und trat, bis ich erschöpft in einen Dämmerzustand fiel. Ich aß wie ein Automat, trank, schied aus, aß, trank, schied wieder aus, in einem Kreislauf, der erst am Tag des Jüngsten Gerichts enden würde.
    Dann, eines Morgens, sah ich das Blatt. Ein Blatt, ein verwelktes Blatt von irgendeinem Baum. Der Wind musste es durch Ritzen oder Scharten in mein Verlies geweht haben. Stundenlang versuchte ich zu ergründen, von welchem Baum das Blatt stammen mochte. Ich fand es nicht heraus. Doch ich sagte mir, dass es Herbst sein musste. Es war ein Herbstblatt, das den Weg zu mir gefunden hatte. Wie viel Zeit war vergangen, seitdem man mich eingekerkert hatte? Es kam mir vor wie tausend Jahre.
    Ein Blatt, ein einzelnes Blatt. Doch Blätter treten niemals einzeln auf. Sie gehören stets zu einem Baum. Wo steht der Baum? Im Schloss? Welche Bäume stehen im Schlossbereich? Ein Pomeranzenbaum. Es muss ein Pomeranzenbaum sein! Odilie, ich sehe dich unter dem Baum stehen, lichtdurchflutet, überirdisch schön. Ich habe mich so nach dir gesehnt, und nun bist du da. Verzeih mein grässliches
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