Der Mann von Anti
Wilhelm Schulte, von Beruf Krankenpfleger. Er arbeite seit zehn Jahren in diesem Schloß, das vor nicht allzu langer Zeit eine Heilanstalt für psychisch Erkrankte gewesen sei. Schulte war von Professor Pulex übernommen worden, nachdem alle Patienten ins Gas geschickt worden waren.
Was nun den Professor anbelangt, so lägen bei diesem die Dinge anders. Gewiß, das beabsichtigte Experiment wäre Mord gewesen, aber erstens wäre es nicht dazu gekommen, und außerdem, so vermuteten die Psychologen, habe der Gelehrte unter starken seelischen Depressionen gestanden.
Bruno war hierüber ganz anderer Meinung, aber er war schließlich kein Psychiater, sondern Friseur und hatte nur den einen Wunsch, dieser Gegend so schnell wie möglich den Rükken zu kehren. Chromosomen hin, Zitronensäure her – mochten die Amis den Narren in Silberpapier einwickeln. Der Krieg war zu Ende, und er wollte endlich anfangen, sich seine Existenz aufzubauen. Die verheißungsvolle Zukunft lag zum Greifen nahe vor ihm.
Der Leutnant begleitete Bruno zur Garage, wünschte ihm gute Weiterfahrt. Bruno bedankte sich und sagte: »Wenn Sie die amerikanische Uniform nicht tragen würden, hätte ich Sie für einen Landsmann gehalten. Sie sprechen ohne Akzent.«
Einen Augenblick zögerte der Leutnant. Er sah aus, als habe ihn Brunos Bemerkung irritiert. Dann antwortete er – und seine Stimme klang fast etwas grob: »Ich bin ein Landsmann von Ihnen. Vor zehn Jahren gelang es mir als einzigem von meiner Familie, aus diesem Land zu fliehen. Meine Eltern, Geschwister und Verwandten sind in die Gaskammern von Auschwitz getrieben worden.«
Er überließ es Bruno, mit dieser Erklärung fertig zu werden. Diesem war zumute, als habe er eine Ohrfeige erhalten. Am liebsten wäre er dem Leutnant nachgelaufen, um seine Unschuld zu beteuern. Die in Nürnberg und solche wie dieser von Pulex waren an allem schuld – er hatte nichts damit zu tun, gar nichts. War er nicht um Haaresbreite beinahe selber ein Opfer dieser Mordbrenner geworden? Verwirrt stand er eine Weile vor der Garage. Was wäre aus ihm geworden, wenn der Professor seinen Vorschlag, ihn als Friseur einzustellen, akzeptiert hätte? Obwohl Bruno sich selbst gegenüber immer wieder seine Unschuld beteuerte, bohrte die furchtbare Erklärung des Offiziers wie ein Stachel in ihm.
Er hatte den Wagen aus der Garage gefahren. Obwohl er in Eile war, machte er sich daran, das defekte Fenster zu reparieren. Nachdem er den Schaden behoben hatte, ließ er den Motor anspringen, fuhr langsam über einen Kiesweg. Vor dem Hauptportal des Schlosses stoppte ihn ein Soldat. Bruno sollte warten, weil ein Jeep, der mit laufendem Motor vor der Treppe des Portals parkte, die Vorfahrt hatte. Am Steuer bemerkte er den Leutnant.
Einige Minuten vergingen, als sich die großen Türen öffneten und mehrere Offiziere und Zivilisten heraustraten. In ihrer Mitte, Bruno hätte ihn beinahe nicht wiedererkannt, befand sich der Professor. Er trug einen dunklen Anzug, hielt einen Lederkoffer in der Rechten und plauderte angeregt mit zwei Herren in Zivil. Einer der Offiziere öffnete die Tür des Jeeps, der Professor und zwei Herren stiegen ein.
Der Leutnant mußte an Bruno vorbeifahren. So sahen sich der Professor und sein Versuchskaninchen noch ein letztes Mal. Von Pulex verriet mit keiner Miene, ob er sein Opfer wiedererkannt hatte.
Noch einmal wurde Bruno von einem Schauder erfaßt, als er auf die dicken Augengläser blickte. Wohin würden sie Pulex bringen? Nach Nürnberg – oder zu seinen Fachkollegen auf der anderen Seite?
Wesen nach meinem Bilde… Bruno schüttelte sich, als ließe sich auf diese Weise alles Vergangene abwerfen. Noch einmal, dachte er, lasse ich mich nicht vor einen solchen Wagen spannen. Vorsehung, Welt beherrschen – ohne mich. Ich bleibe bescheiden. In drei, vier Wochen habe ich, wenn alles klappt, meinen Salon. Das wird meine Welt werden. Viel Glas, Marmor und geschliffene Spiegel; ein paar nette Friseusen, zwei, drei Lehrlinge und draußen, mit verchromten Buchstaben:
Damen- und Herrenfriseur BRUNO PLATH.
Günter Kunert
Museumsbesuch
Gesünder leben. Spazierengehen. Hin und wieder wenigstens. Aus der täglichen Tretmühle für ein paar Stunden irgendwohin. Es wird ja so vieles geboten: Wald und Heide, Kunst und Kultur; am Busen der Natur oder der Musen ausruhen. Synthese: Freilichttheater oder anthropologisches Museum – zentral gelegen, moderner Bau, von einem modernen Architekten entworfen, entsprechend dem
Weitere Kostenlose Bücher