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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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ist perfekter als das meine, und warum nicht noch ein wenig spontan sein, neue Menschen kennenlernen, was erwartet mich in der Wohnung des Masseurs außer einem schlafenden Kind und einem älteren Mann mit falschen Ideen? Ich beginne ein überraschend gutes Gespräch mit den beiden Chinesen, ich höre mich reden und lachen, verstehe jedoch meine Worte nicht, sie verlassen mich zu schnell, ohne nochmals eine übergeordnete Instanz zu passieren. Ehrliche Worte, ehrliche Gesten der Männer, die mich offenbar dauernd berühren müssen. Ich kann mir die Namen der beiden nicht merken, ihre Gesichter nicht auseinanderhalten, merke nur, dass einer eine Beinprothese trägt, und frage ihn nach dem Verbleib des originalen Gliedmaßes.
    »Ich hatte viel Pech in meinem Leben«, antwortet er. »Von Kindheit an lief alles schief. Meine Mutter hat mich allein großgezogen, und wir hatten nie Geld.« Ich verstehe sehr gut, wovon er redet. Er redet von seiner Mutter, während der andere Mann neue Getränke auf den Tisch stellt. Das Meer rauscht im Hintergrund. Es dauert eine Weile, bis ich merke, dass es bei der Bar kein Meer gibt. Interessant. »Sie hat dann als Prostituierte gearbeitet.« Ich sinke kurz zusammen. Die Geschichte von der sich prostituierenden Mutter habe ich schon zu oft gehört, als dass es sich bei den betreffenden Damen wirklich um registrierte Huren hätte handeln können. Eher glaube ich, dass nicht wenige Männer jede Frau für eine Prostituierte halten. Speziell Jungen, die alleine mit ihrer Mutter aufwachsen, neigen dazu, aus Eifersucht jeden Mann, der mit ihrer Mutter verkehrt, für einen Freier zu halten. Ich bin erstaunt, dass ich überhaupt noch zu Gedanken fähig bin. Das Rauschen des Meeres in meinem Kopf hat sich zu einemWasserfall verdichtet. Die Wohnung, in der das Bett steht, in dem ich jetzt liegen könnte, scheint unendlich weit entfernt. Durch den Wasserfall höre ich des Chinesen Stimme quengeln. »Ich hatte nie eine Chance. Ich bin krank. Und es gibt keinen Arbeitsplatz für mich. Meine Mutter hat mir das Bein amputiert, da war ich acht, und sie hatte Angst, dass ich sie verlassen könnte.« Der Chinese schaut mich mit einem so verlogenen Blick an, dass es selbst mir im Zustand hoher Betrunkenheit auffällt. Vielleicht bin ich nicht so betrunken, wie ich annehme. Der andere Chinese hat sich in der Zwischenzeit an mich geschmiegt. Ich bin ein wenig verwundert. Er hat wohlriechendes, glattes Haar, das ihm lang ins Gesicht fällt, seine Kleidung ist einigermaßen gepflegt und seine Hand sehr schmal. Im Hintergrund jammert der andere Mann weiter, mir fällt auf, dass seine Zähne äußerst ungepflegt sind. Ich brauche dringend noch etwas Alkohol, denn schon wieder reißt die wattierte Oberfläche, auf der ich mich bewege, und darunter liegen unangenehm gelbe, spitze Steine. Ich trinke noch ein wenig, der Chinese mit den schlechten Zähnen und sein Freund sind an meiner Seite, und wir gehen ein paar Schritte. Die Idee ist wohl, bei einem der beiden weiterzufeiern, denn die Bar hat inzwischen geschlossen, ohne dass mich jemand um Rat gefragt hätte. Ich gleite durch die feuchte Nacht, die warm ist und nach Wasser riecht. Die Sterne stehen sehr deutlich am Himmel, doch immer, wenn ich mich auf einen zu konzentrieren versuche, verschwimmt er. Ich habe Mitgefühl mit den Sternen, die so schwach konstruiert sind. Das Mitgefühl, auf das sich der Mensch so viel einbildet, über das jedoch fast alle Tiere verfügen. Was ist von Menschen zu erwarten, die Tiere fressen?
    Wir sind über die Tiefe meiner Gedanken in eine merkwürdige Wohnung gelangt. Ein kleines Loch unter dem Dach eines Hauses, das mir auf dem Weg zum Strand aufgefallen ist. Das uns damals aufgefallen war. Wir waren am ersten Abend zum Strand gelaufen. Und hatten dieses Haus gesehen, rot und zugewachsen in einem tropischen Schlingpflanzenareal. Wir hatten überlegt, wie es wäre, da alt zu werden, mit dem Sumpf gegenüber, in der Mitte zwischen Dorf und Strand. Die Nüchternheit kommt unangenehm klar. Und zu schnell. Ich sehe mich in einem Drecksloch von Zimmer, dessen Boden bedeckt ist von strengriechender Wäsche, ein Wasserhahn tropft noch nicht einmal, vermutlich ist das Wasser abgestellt. Zwei nackte Chinesen sitzen betrunken neben mir und berühren mich an Stellen, die ich momentan nicht zu spüren in der Lage bin. Mit der unbefriedigend kleinen Klarheit kommt der starke Drang, mich zu übergeben. Was ich, nachdem ich die Treppe fast
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