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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Hans-Joachim Noack
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    «Ein von Geburt an chronisch einsamer Kerl» Annäherung an Willy Brandt
    Meine erste persönliche Begegnung mit Willy Brandt datiert vom Sommer 1970. Als Reporter der «Frankfurter Rundschau» durfte ich ihn im niedersächsischen Landtagswahlkampf in seinem Wagen begleiten – ein sonnendurchfluteter Nachmittag, der auf etwas eigentümliche Weise begann.
    Weil sein Terminplan das erlaubte, gestattete sich der seit neun Monaten amtierende Regierungschef im abgeschiedenen Ammerland einen kurzen Zwischenstopp. Er genoss gerade die idyllische Natur, als er in einem Birkenhain von einigen Forstarbeitern entdeckt wurde. «Was, Sie hier bei uns im Wald – ist ja doll!», rief ein sichtlich begeisterter junger Mann und riss sich mit einem tiefen Diener die Mütze vom Kopf.
    Für einen Politiker und zumal den Tross der Fotografen, den der prominente Spaziergänger auf seiner Tour hinter sich herzog, keine unangenehme Situation, was auch Brandt so zu empfinden schien. Grinsend verschränkte er die Arme über der breiten Brust, und einen Moment lang sah es nach einem flotten Smalltalk aus, doch plötzlich verdüsterte sich seine Miene. «Och, na ja, muss mal sein … mal ’n bisschen die Füße vertreten», nuschelte er fast schon ein wenig unfreundlich, um sich danach ohne ein weiteres Wort in Richtung Auto zu verdrücken.
    Eine kleine Szene am Rande, die im Grunde kaum der Erwähnung wert wäre – hätte ich sie nicht anderntags kräftig geschönt. Anstatt den Zeitungslesern einfach mitzuteilen, wie bemerkenswert ungelenk der Wahlkämpfer aus Bonn einen ihm lästigen zufälligen Kontakt abwimmelte, lobte ich ihn. Er habe darauf verzichtet, schrieb ich, der in seinem Metier verbreiteten Neigung zum billigen Populismus nachzugeben und in der deutschen Provinz «die übliche Kurfürstenschau» abzuziehen.
    Bei der Durchsicht alter Artikel, die ich im Laufe der Zeit über Willy Brandt geschrieben hatte, fiel mir eine Reihe ähnlich polierter Passagen auf. Grobe Schnitzer glaube ich mir im Rückblick zwar nicht vorwerfen zu müssen, aber mit welcher Fürsorglichkeit unsereins damals in die Tasten griff, um den ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik in möglichst günstigem Licht erscheinen zu lassen, hatte ich weitgehend verdrängt.
    Doch so war das in den wildbewegten frühen Siebzigern. Obwohl ich in meinem Beruf keiner Partei angehören wollte, zählte ich mich zumindest als junger Mann zu den «Willy»-Fans – eine eher moralisch motivierte Gefolgschaft, die vor allem der im rechten Lager böse verunglimpften Person wie deren Vita galt. Einem im «Dritten Reich» von den Nazis verfolgten Emigranten und aktiven Widerstandskämpfer die Stange zu halten, der selbst noch nach seinem Einzug ins Bonner Palais Schaumburg kaltschnäuzig als «Vaterlandsverräter» an den Pranger gestellt wurde, verlangte meines Erachtens allein schon der Anstand.
    Dabei konnte ich dem Kernstück seiner Politik, einem auf Ausgleich mit den osteuropäischen Staaten angelegten Versöhnungswerk, das den endgültigen Verzicht auf die einstigen, jenseits von Oder und Neiße liegenden deutschen Provinzen einschloss, zunächst nur wenig abgewinnen. Sosehr er mir als Sohn pommerscher Heimatvertriebener in der Heroengestalt des furchtlosen Regierenden Bürgermeisters von Berlin imponiert hatte, so enttäuscht war ich von der abrupten Kehrtwende, die er nach dem Bau der Mauer vollzog. Was in einer bipolar erstarrten Welt die neue Parole vom «Wandel durch Annäherung» tatsächlich bedeutete, erklärte mir erst mein journalistischer Mentor, der spätere FDP-Generalsekretär Karl-Hermann Flach, dem ich im Bundestagswahljahr 1969 meinen Job bei der «Frankfurter Rundschau» verdankte.
    In Bonn, wo ich nun regelmäßig im Hauptstadtbüro arbeitete, wurde mir Brandt als schwieriger Charakter geschildert. Der Freund und Rivale Helmut Schmidt etwa pries seine «phänomenale Ausstrahlungskraft auf Massen», die sich im persönlichen Umgang freilich rasch verflüchtige, denn der dröge Grübler aus Lübeck sei «ein von Geburt an chronisch einsamer Kerl». Menschen finde der Spitzengenosse meistens bloß dann interessant, steckten mir Funktionäre in der Parteizentrale, wenn er sie in einer möglichst großen Zahl vor sich habe.
    Keine guten Voraussetzungen für einen wie mich, der bei seinen Recherchen nicht selten mit Lampenfieber zu kämpfen hatte – und als ich ihm zum ersten Mal in seinem Amt gegenübersaß, ging das
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