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Giftspur

Giftspur

Titel: Giftspur
Autoren: Daniel Holbe
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    Prolog
    S abine Kaufmann hielt das Steuer fest umklammert.
    Ihre Fingernägel pressten sich in den schwarzen Überzug. War es Leder, war es Latex? Was auch immer, es schien in diesem Augenblick die einzige Option zu sein. Kein rettender Strohhalm, denn diese Umschreibung wurde dem Szenario nicht im mindesten gerecht. Vielmehr war es für sie wie die letzte Faser eines aufgedröselten Kletterseils, von den scharfen Kanten des zerschlissenen Felsgesteins durchgescheuert, unter ihr der bodenlose Schlund, der sie bei der nächsten unbedachten Bewegung verschlingen würde.
    Jede Muskelkontraktion konnte ihre letzte sein.
    Sabine zwang ihren Blick nach oben. Blauer Himmel, weit über ihrem Kopf ruhten vereinzelte Kumuluswolken, jene zarten Schönwetterwolken, die es in den vergangenen Monaten viel zu selten gegeben hatte. Die Sonne strahlte warm, im Grunde war alles perfekt. Ein glückliches Zusammentreffen von angenehmer Witterung und einem freien Vormittag.
    Was also zum Teufel mache ich hier?
    Sie steuerte geradewegs auf Gedern zu, am nördlichen Zipfel der Wetterau gelegen und geographisch betrachtet längst dem Vogelsberg zugehörig. Kaum, dass man die flache, von Feldern und verinselten Waldstücken beherrschte Region verließ und sich von der flach gelegenen Mainmetropole entfernte, erhoben sich die unzähligen Kuppen und Höhenzüge eines beachtlichen Vulkanmassivs. Inaktiv, selbstverständlich, und das bereits seit sieben Millionen Jahren. Von lokalpatriotischen Gelehrten wurde er verbissen als Europas größter Schildvulkan verteidigt, an den umliegenden Hochschulen jedoch lehrte man das Gegenteil. Der Vogelsberg war der überwiegenden Meinung nach das größte Basaltmassiv Europas, also immer noch ein Superlativ, allerdings nicht mehr als eine Ansammlung einzelner Vulkanschlote. Wie auch immer, sein höchster Gipfel, der Hoherodskopf, lockte Sommer- wie Wintersportler gleichermaßen. Darunter auch Sabine Kaufmann. Langlauf, Rodeln, Walken – wann immer das monotone Grau des ewig dauernden Winters sie zu erdrücken drohte, flüchtete die sportbewusste Zweiunddreißigjährige sich hierhin. Der Große Feldberg im Taunus lag zwar deutlich näher, war allerdings meist überlaufen, und das auch noch von einer unerträglich selbstverliebten Schickeria der Reichen und Schönen und jener, die sich in verzerrter Selbstwahrnehmung für das eine oder andere hielten.
    Muskelkontraktion.
    Schweiß glänzte auf Sabines Handrücken, ihre Stirn war längst von salzigen Perlen bedeckt, und sie dankte Gott, dass niemand sie sehen konnte. Zumindest nicht von vorn.
    »Alles okay?«
    »Natürlich«, presste sie hervor.
    Unter der Baumwolle ihres grauen Sportpullovers begann es zu jucken, und zwar unter den beiden hochgezogenen Bünden der Ärmel, die sich kurz unterhalb der Ellbogen eng über die sanft gebräunte Haut spannten.
    Bloß nicht zucken.
    »Gleich sind wir da, sehen Sie da vorn?«
    Ich bin ja nicht blind.
    Der tiefe Klang der voluminösen, von einer beneidenswerten Ruhe geprägten Stimme schien den gesamten Innenraum einzunehmen. Dabei hatte der Mann kaum eine Ähnlichkeit mit Rebroff oder Pavarotti, von einer gewissen Fülle des Bauches einmal abgesehen. Stattdessen wirkte sein Oberkörper, als habe die Natur ihn versehentlich mit zwei oder drei zusätzlichen Rippenbögen ausgestattet. Sabine schätzte, dass er über ein beachtliches Lungenvolumen verfügte, ein überdimensionaler Resonanzraum wie bei einem mannshohen Subwoofer.
    Statt der üblichen Serpentinen und schmaler Nebenstraßen, die sich zwischen Viehgattern und eng stehenden Douglasien hindurchschnitten, breitete sich nun eine lange Gerade vor ihnen aus. Keine Steigung, keine Kurven, keine Abzweigung. Alles schien perfekt bereitet. Doch die Kommissarin konnte sich nicht entspannen.
    Ihr Blick huschte hinab auf den Tachometer, verharrte für eine Sekunde auf dem Lüftungsregler, dann schnell wieder nach vorn.
    Café au Lait, ein Croissant mit Nutella und ein bis zwei Stunden Wiederholungsprogramm im Fernsehen. Das Leben könnte so einfach sein.
    »Jetzt haben wir’s gleich«, dröhnte es von hinten, und ein plötzlicher Ruck des Lenkers ließ der Kommissarin das Blut in den Adern gefrieren.
    Wie von Geisterhand fuhr der grasgrüne Horizont vor ihren Augen nach oben, und in ihrem Magen wurde es flau. Bald war nur noch eine grüngolden schillernde Fläche zu sehen, immer näher kommend, und aus dem fernen Nirwana hörte Sabine noch die Frage, ob sie
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