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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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selbstgerecht durch ihr Leben jagen wollten, umgeben von einer Wolke des Hasses auf alle, die nicht sie waren.
    Ich hasste alle.
    Sie standen mir im Weg, sie sahen meine aufgerissenen Augen, rochen meinen Angstschweiß, sie wichen mir aus, im besten Fall, oder machten mich über sie stolpern. Ich lief schnell, kurz davor, zu rennen, am Pier entlang, alle Anleger prüfend, und dann in Richtung des Rolltreppenviertels, da kannten wir uns aus, da waren wir immer gewesen, es gab keinen Grund für ihn, in der Nacht auf den Berg zu steigen, im Dunkel auf die Stadt zu sehen, wozu?
    Es war halb zehn, vielleicht auch nicht, die Uhren verschwammen im Vorübergehen, Vorüberschieben, im Rolltreppenviertel wurde geschoben. Die Ausgeher waren auf der Straße, sie sahen aus, als sei nichts passiert. Die schönen Mädchen, die arschgesichtigen Banker, die zu großen Ausländermit roten Beinen und Köpfen und Button-down-Krägen, was wollten sie nur hier in diesem Land, das sie nichts anging.
    Wären sie bloß zu Hause geblieben. Der gesunde Mensch liebt doch den Ort, dem er entstammt, und hält diese Stelle für unverwechselbar, denn sie berichtet von alten Sagen und Bräuchen und der Schönheit der Natur, selbst wenn der Ort in Tschernobyl stationiert ist. Gut eingerichtet, diese Heimatliebe, von der Natur. Es können nicht alle nach Hongkong oder Paris, oder an die Amalfiküste. Bleibt zu Hause, ihr Idioten, und geht mir aus dem Weg.
    Ich sah in jedes Restaurant, jede Bar, ich kroch über den Nachtmarkt, von oben nach unten. Mit der Rolltreppe fuhr ich zum am Berg gelegenen Ende der Straße und lief. Immer schneller, ich spürte, dass ein pathologischer Zustand eintrat. Ich konnte nicht mehr denken, nichts mehr wahrnehmen. Eine chinesische Dame sprach mich an, ich hörte nicht, was sie sagte. Sie nahm mich am Arm und führte mich irgendwohin. Ich begann zu weinen, wobei weinen das falsche Wort ist, es war eine hysterische Entladung angestauter Spannung, ein Schnappen nach Luft, etwas unbeherrscht Haltloses. Die chinesische Dame verstärkte den Druck ihrer Hand auf meinem Arm, sie redete auf mich ein, hinter einem Vorhang aus Wasser. Vielleicht brachte mich die Frau zu einem großen Loch im Boden, im Inneren ein Zerkleinerer, in den ich mich begeben könnte.
    Sie geleitete mich zu einem Polizeirevier. Das hätte ich wohl auch getan, wäre ich sie gewesen, in einem verrückten Moment der Empathie.
    Das hatten wir doch gelernt, dass die Polizei helfen kann und Decken verteilt bei Gewaltverbrechen, die einer überlebthat und zitternd vor dem Haus sitzt, in dem seine Familie geschlachtet liegt.
    Erlesen höfliche Beamte versuchten, mich zu beruhigen. Zu fragen, genauere Angaben, ob ich ein Foto hätte. Ich hatte ein Foto, sicher hatte ich eins, auch zwanzig, in meinem Telefon. Ich wurde in einen Warteraum geführt und konnte für kurze Zeit entspannen. Ich war bei der Polizei. Englisch geschultes Personal. Scotland Yard. Sie würden etwas unternehmen, die Tür würde sich öffnen, der Mann eintreten, mich umarmen, alles erklären, nichts Schlimmes, ich dummes Ding, so eine Aufregung, für nichts. Ich wartete vielleicht eine Stunde, dann kam ein Beamter zu mir. Mit nachhaltig schwerem Gesicht.

Heute.
Abend.
    Es gibt Momente, die nie zu vergehen scheinen, weil sie so absurd sind, dass fremde Zivilisationen, die per Satellit Dokumentarfilme von Menschen aufnehmen, sich daran erfreuen. Die Zeit wird manipuliert von ihnen und ihren Kameras, und ich werde vermutlich gerade live übertragen, wie ich an einem Küchentisch sitze, einem alten Mann beim Massieren einer alten Frau zusehe, ein mir fremdes Kind gegenüber, das ununterbrochen redet.
    »Die Chinesischlehrerin ist richtig alt, also sicher über dreißig, und sie hat nie geheiratet. Dabei ist sie nicht hässlich für so einen alten Menschen, aber sie sieht so unglaublich traurig aus, dass es immer besonders ruhig in der Klasse ist, während sie unterrichtet. Keiner will sie aufregen oder sie noch trauriger machen. Sie hat Krebs und wird sterben. Sagen die anderen in der Klasse. Das ist der Grund, warum sie nicht geheiratet hat. Weil sie weiß, dass sie nur noch kurze Zeit zu leben hat und keinen alleine in einer Wohnung zurücklassen wollte, in die es reinregnet. Denn in ihre Wohnung regnet es rein, sagt man. Es bildet sich bei schlechtem Wetter eine Pfütze am Boden, und sie sitzt dann da, es ist ihr kalt, und sie lässt kleine Papierboote auf der Pfütze schwimmen, in die es tropft.
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