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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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Nicht stark, nur unentwegt.«
    Kim holt kurz Luft, um weitere Abenteuerlichkeiten ihrer Geschichte anzufügen, und ich denke mir, wie muss es der armen Frau gehen, da ihr jeder Tag am Morgen schon nichtmehr bedeutet als ein Schritt mehr auf das Ende zu. Und ob man das vergessen kann, das Bild von einem selbst, wie man verbrannt und in ein kleines Gefäß verbracht wird?
    »Vielleicht hätte die Lehrerin auch keinen Krebs bekommen, wenn sie einen Menschen um sich gehabt hätte.« Kim schweigt kurz, schaut mich an, prüft, ob die Botschaft mich erreicht hat, und redet weiter. »Wer weiß, was zuerst da war. Der Krebs oder die Einsamkeit. Vielleicht steckt sie sich abends Puppen auf ihre Finger, die sie in der Höflichkeitsform anredet und mit denen sie zu Tisch geht und im Anschluss an die Pfütze, um mit den Schiffen zu spielen. Es ist eben nicht gut, allein zu sein, dann beginnt man, mit Dingen zu reden, die nicht da sind, oder sich zu freuen, wenn man rostige Dinge berühren kann und es so seltsame Geräusche macht.«
    Kim gibt wirklich alles. Dann sinkt sie in sich zusammen, die Worte sind verschwunden, als hätte man einen Wasserhahn zugedreht.
    Der Tee ist kalt geworden, irgendwann muss der Masseur sich zu uns gesetzt haben, in diesem unendlichen Moment, er sieht auf seine Hände, die er auf dem Tisch angeordnet hat, die Luft scheint grün, verdichtet von Enttäuschung.
    Ein leiser Zorn ist in mir, denn noch vor zwei Tagen war der Masseur einfach ein alter Mann und ich eine verwirrte Touristin. Wir hatten nichts miteinander zu tun, unsere einzige Verbindung ein kleines Mädchen, über das ich gestolpert war. Kein Grund für irgendwelche Ansprüche. Kein Grund, mit einem Kuss eine Situation, die sich zu Erfreulichem hätte entwickeln können, zu zerstören.
    Dass Männer immer etwas unternehmen müssen, weil sieRuhe nicht ertragen oder unklare Situationen, dass sie immer forsch sein müssen, wenn doch Unsicherheit angezeigt wäre und Abwarten und Ruhigsein. Fast bin ich mir sicher, dass der Masseur keine sexuellen Interessen hat, ich weiß nicht, ob Männer über fünfzig noch sexuelle Interessen haben oder ob sie allein in Erinnerung an hormonelle Zeiten lüsterne Bücher schreiben, Nackte malen oder Mädchen hinterherpfeifen. Vielmehr glaube ich, er hat irgendein Gefühl, weiß nicht, welches, und ist zu träge, sich über seine Bestimmung klar zu werden. Nun ist die Atmosphäre unangenehm, und das ist wirklich das Letzte, was ich gebrauchen kann.

Damals.
Vor weniger als drei Monaten.
Immer noch Nacht.
    »Unsere Nachforschungen haben zu keinem Ergebnis geführt«, sagte der Polizist, der aussah wie ein Chauffeur. »Wir haben uns in allen Krankenhäusern erkundigt, bei allen Polizeistationen der Stadt, wir haben die Liste der aktuellen Unfälle und Schlägereien gründlich studiert. Ein Ausländer, auf den Ihre Beschreibung passen würde, ist nirgends aktenkundig. Ich würde Ihnen vorschlagen, zu schlafen und noch einen Tag zu warten. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, wir haben hier ein sehr vielfältiges Unterhaltungsangebot, wenn Sie verstehen, was ich meine. Vielleicht taucht Ihr Mann bereits morgen auf, mit Kopfschmerzen und schlechtem Gewissen. Wenn nicht, gebe ich Ihnen meine Karte, dann nehmen wir morgen Abend eine Vermisstenanzeige auf. Doch in aller Regal tauchen siebenundneunzig Prozent der Vermissten innerhalb von vierundzwanzig Stunden wieder auf.«
    »Und die anderen drei Prozent?« fragte ich.
    Der Polizist überlegte kurz und antwortete: »Die restlichen drei Prozent sind tot oder wirklich weg, in einer Art, die sich keiner erklären kann. Sie verschwinden, als ob sie sich in Luft auflösen, und sie tauchen nie mehr auf.«
    Ich bedankte mich für die ehrliche Auskunft. Die Hysterie hatte sich durch das beherzte Auftreten einer Autoritätsperson ein wenig beruhigt. Ich funktioniere da nicht anders alsfast alle Menschen. Eine Uniform oder eine ohne Selbstzweifel vorgetragene Anweisung haben auf jeden Fall eine Wirkung auf mich. Bei diesem Test, wo man das Gegenüber nach Anweisungen mit Elektroschocks quält, würde ich vermutlich wie die meisten bestehen. Ich wäre ein guter Befehlsempfänger. Und wie betäubt von der Macht der Autorität lief ich, ohne weiter darüber nachzudenken, auf die Fähre, um zurück auf die Insel überzusetzen. Ich war mir aus unerklärlichen Gründen sicher, dass sich der Mann in der Wohnung befände. Vermutlich lesend im Bett, auf die Straße schauend, beunruhigt
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