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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Autoren: Robert Musil
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ihnen zu ihnen scheint er gelaufen zu sein, und das Schicksal hat nicht Beschlüssen und Ideen gehorcht, sondern diesen geheimnisvollen, halb unsinnigen Bildern.
    Aber während ihn diese sinnlose Ohnmacht aller Bemühungen, deren er sich gerühmt hatte, beinahe zu Tränen rührte, entfaltete sich in dem übernächtigen Zustand, worin er sich befand, oder fast müßte man sagen, geschah um ihn wunderliches Gefühl. In allen Zimmern brannten noch die Lampen, die Clarisse, als sie allein war, überall angezündet hatte, und der Überfluß des Lichts strömte zwischen den Wänden und Dingen hin und her, den dazwischen liegenden Raum mit einem fast lebenden Etwas ausfüllend. Und wahrscheinlich war es die in jeder schmerzlosen Müdigkeit enthaltene Zärtlichkeit, die das Gesamtgefühl seines Körpers veränderte, denn dieses immer vorhandene, wenn auch unbeachtete Selbstgefühl des Körpers, ohnehin ungenau begrenzt, ging in einen weicheren und weiteren Zustand über. Es war eine Auflockerung, als hätte sich ein zusammenschnürendes Band entknotet; und da sich ja weder an den Wänden und Dingen etwas wirklich änderte und kein Gott das Zimmer dieses Ungläubigen betrat und Ulrich selbst keineswegs auf die Klarheit seines Urteils verzichtete (soweit ihn nicht seine Müdigkeit darüber täuschte), konnte es nur die Beziehung zwischen ihm und seiner Umgebung sein, was dieser Veränderung unterworfen war, und von dieser Beziehung wieder nicht der gegenständliche Teil, noch Sinne und Verstand, die ihm nüchtern entsprechen, sondern es schien sich ein tief wie Grundwasser ausgebreitetes Gefühl zu ändern, worauf diese Pfeiler des sachlichen Wahrnehmens und Denkens sonst ruhten, und sie rückten nun weich auseinander oder ineinander: diese Unterscheidung hatte nämlich im gleichen Augenblick auch ihren Sinn verloren. »Es ist ein anderes Verhalten; ich werde anders und dadurch auch das, was mit mir in Verbindung steht!« dachte Ulrich, der sich gut zu beobachten meinte. Man hätte aber auch sagen können, daß seine Einsamkeit – ein Zustand, der sich ja nicht nur in ihm, sondern auch um ihn befand und also beides verband – man hätte sagen können, und er fühlte es selbst, daß diese Einsamkeit immer dichter oder immer größer wurde. Sie schritt durch die Wände, sie wuchs in die Stadt, ohne sich eigentlich auszudehnen, sie wuchs in die Welt. »Welche Welt?« dachte er. »Es gibt ja gar keine!« Es kam ihm vor, daß dieser Begriff keine Bedeutung mehr hätte. Aber Ulrich hatte sich immer noch so viel Selbstüberwachung bewahrt, daß dieser zu hoch gesteigerte Ausdruck ihn im gleichen Augenblick unangenehm berührte; er suchte nach keinen anderen Worten mehr, ja im Gegenteil, er näherte sich von da an wieder der Vollwachheit und nach wenigen Sekunden fuhr er auf. Es graute der Tag und mischte seine Fahlheit in die rasch abwelkende Helligkeit des künstlichen Lichts.
    Ulrich sprang auf und dehnte seinen Körper. Es war etwas darin zurückgeblieben, das sich nicht abschütteln ließ. Er strich sich mit dem Finger über die Augen, aber sein Blick behielt etwas von der Weichheit einer einsinkenden Berührung der Dinge. Und mit einem Mal erkannte er in einer schwer beschreiblichen, abströmenden Weise, einfach so, als verließe ihn die Kraft, es länger abzuleugnen, daß er wieder dort stand, wo er sich schon einmal vor vielen Jahren befunden hatte. Er schüttelte lächelnd den Kopf. Einen »Anfall der Frau Major« nannte er sein Befinden spöttisch. Nach der Meinung seiner Vernunft bestand keine Gefahr, denn es war niemand da, mit dem er eine solche Torheit hätte wiederholen können. Er öffnete ein Fenster. Es war eine gleichgültige Luft draußen, eine Allerweltsmorgenluft mit den ersten anklingenden Geräuschen der Stadt. Während die Kühle seine Schläfen wusch, begann ihn die Abneigung des Europäers gegen Gefühlsduselei mit ihrer klaren Härte zu erfüllen, und er nahm sich vor, dieser Geschichte, wenn es sein müßte, mit aller Exaktheit zu begegnen. Und doch hatte er, lange so am Fenster stehend und ohne Gedanken in den Morgen blickend, auch da noch etwas von dem blinkenden Vergleiten aller Empfindungen in sich.
    Er war überrascht, als mit einemmal sein Diener mit dem feierlichen Ausdruck des Frühaufgestandenen eintrat, um ihn zu wecken. Er badete, gab rasch seinem Körper einige lebhafte Bewegung und fuhr zur Bahn.
     
     
     
     
    ENDE DES ERSTEN BUCHES

DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN
     
     
    ERSTES
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