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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Autoren: Robert Musil
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Ulrich zaghaft. Sie hatte bloß den Wunsch, sich recht kameradschaftlich von ihm zu verabschieden, damit er darüber nicht im Zweifel bleibe. Sie sagte leichthin: »Es ist besser, du erzählst Walter nichts von diesem Besuch, und was wir gesprochen haben, bleibt bis zum nächsten Mal unter uns!« Sie reichte ihm an der Gartentür noch einmal die Hand und lehnte eine weitere Begleitung ab.
    Als Ulrich zurückkehrte, erging es ihm sonderbar. Er mußte einige Briefe schreiben, um sich von Graf Leinsdorf und Diotima zu verabschieden, und hatte auch sonst verschiedenes in Ordnung zu bringen, denn er sah voraus, daß ihn die Übernahme seines Erbes längere Zeit fernhalten werde; dann tat er die mannigfaltigen Gegenstände des kleinen Gebrauchs und Bücher in die von seinem Diener, den er schlafen geschickt hatte, schon gepackten Koffer, und als er mit alledem fertig war, fühlte er keine Lust mehr, sich zur Ruhe zu legen. Er war abgespannt und überreizt als Folge des bewegten Tags, und diese beiden Zustände schwächten sich nicht, sondern hoben sich wechselseitig in die Höhe, so daß er sich bei großer Müdigkeit schlaflos fühlte. Nicht denkend, sondern hin und her schwingenden Erinnerungen folgend, gestand Ulrich sich zunächst ein, daß der schon einigemal empfangene Eindruck, Clarisse sei nicht bloß ein ungewöhnliches, sondern im geheimen wohl bereits ein geisteskrankes Wesen, keinen Zweifel mehr erlaube, und doch hatte sie in ihrem Anfall, oder wie man den Zustand nennen mochte, worin sie sich vor kurzem befunden, Aussprüche getan, die manchen seiner eigenen bedenklich ähnlich waren. Es hätte ihn von neuem und gründlich zum Nachdenken darüber bringen können, aber er fühlte sich bloß in einer unangenehmen und zu der Natur seines Halbschlafzustandes gegensätzlichen Weise darauf aufmerksam gemacht, daß er noch viel zu tun habe. Von dem Jahr, das er sich vorgesetzt hatte, war die eine Hälfte fast schon verstrichen, ohne daß er mit irgendeiner Frage in Ordnung gekommen wäre. Es fuhr ihm durch den Sinn, daß Gerda von ihm verlangt hatte, er möge ein Buch darüber schreiben. Aber er wollte leben, ohne sich in einen wirklichen und einen schattenhaften Teil zu spalten. Er entsann sich des Augenblicks, wo er mit Sektionschef Tuzzi darüber gesprochen hatte. Er sah sich und ihn in Diotimas Salon stehn, und es hatte etwas Dramatisches, etwas von Darstellern an sich. Er erinnerte sich, leichthin gesagt zu haben, er werde wohl ein Buch schreiben oder sich töten müssen. Aber auch der Gedanke an den Tod war, wenn er sich das jetzt, und sozusagen aus der Nähe, überlegte, durchaus nicht der wirkliche Ausdruck seines Zustands; denn wenn er ihm weiter nachgab und sich vorstellte, er könnte sich ja, statt abzureisen, noch vor dem Morgen töten, so kam es ihm in dem Augenblick, wo er die Todesnachricht seines Vaters erhalten hatte, einfach als ein unpassendes Zusammentreffen vor! Er befand sich in einem halben Zustand des Schlafs, wo die Gebilde der Einbildungskraft einander zu jagen beginnen. Er sah den Lauf einer Waffe vor sich, in dessen Dunkel er hineinblickte und darin er ein schattiges Nichts, den die Tiefe absperrenden Schatten wahrnahm, und fühlte, es sei eine seltsame Übereinstimmung und ein sonderbares Zusammentreffen, daß dieses gleiche Bild einer geladenen Waffe in seiner Jugend ein Lieblingsbild seines auf Flug und Ziel wartenden Willens gewesen war. Und er sah mit einemmal viele solche Bilder wie jenes der Pistole und seines Beisammenstehens mit Tuzzi. Der Anblick einer Wiese am frühen Morgen. Das von der Eisenbahn gesehene, von dicken Abendnebeln erfüllte Bild eines lange gewundenen Flußtals. Am anderen Ende Europas ein Ort, wo er sich von einer Geliebten getrennt hatte; das Bild der Geliebten war vergessen, jenes der erdigen Straßen und schilfgedeckten Häuser frisch wie gestern. Das Achselhaar einer anderen Geliebten, einzig und allein übrig geblieben von ihr. Einzelne Teile von Melodien. Die Eigenart einer Bewegung. Gerüche von Blumenbeeten, einst unbeachtet über heftigen Worten, die aus tiefer Erregung der Seelen kamen, heute diese Vergessenen überlebend. Ein Mensch auf verschiedenen Wegen, beinahe peinlich anzusehen: er; wie eine Reihe Puppen übrig geblieben, in denen die Federn längst gebrochen sind. Man sollte meinen, solche Bilder seien das Flüchtigste von der Welt, aber eines Augenblicks ist das ganze Leben in solche Bilder aufgelöst, nur sie stehen auf dem Lebensweg, nur von
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