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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Autoren: Robert Musil
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Archivs ein Jünglingsgesicht haben!«
    Clarisse drehte sich nachdenklich auf dem Absatz herum und ging von Ulrich fort; in einiger Entfernung nahm sie wieder Stellung und »faßte« ihn »ins Auge«. »Weißt du, wie ein Regenschirm aussieht, nachdem man den Stock herausgezogen hat? Walter fällt zusammen, wenn ich mich abwende. Ich bin sein Stock, er ist –« »Der Schirm« hatte sie sagen wollen, aber es fiel ihr eine wesentliche Verbesserung ein; »er ist mein Schirm-Herr« sagte sie. »Er glaubt mich beschirmen zu müssen. Erst möchte er mich dazu mit einem schweren Bauch sehen. Dann wird er mir zureden, daß eine natürliche Mutter ihr Kind selbst stillt. Dann wird er dieses Kind in seinem Sinn erziehen wollen. Das weißt du doch selbst. Er will sich einfach Rechte aneignen und mit einer großartigen Ausrede Spießbürger aus uns beiden machen. Aber wenn ich weiter, so wie ich es bisher getan habe, nein sage, dann ist es aus mit ihm! Ich bin einfach alles für ihn!«
    Ulrich lächelte ungläubig zu dieser umfassenden Behauptung.
    »Er will dich töten!« fügte Clarisse rasch hinzu.
    »Was? Ich dachte, das hättest du ihm geraten?«
    »Ich möchte das Kind von dir haben!« sagte Clarisse.
    Ulrich pfiff überrascht durch die Zähne.
    Sie lächelte wie ein sehr junger Mensch, der eine ungezogene Forderung gestellt hat.
    »Ich möchte jemand, den ich so gut kenne wie Walter, nicht hintergehn. Ich habe eine Abneigung dagegen« sagte Ulrich langsam.
    »So? Du bist also sehr anständig?« Clarisse schien dem eine Bedeutung beizumessen, die Ulrich nicht verstand; sie überlegte, und erst nach einer Weile setzte sie ihren Angriff fort: »Aber wenn du mich liebst, hat er dich in der Hand!?«
    »Wieso?«
    »Das ist doch ganz klar; ich kann es bloß nicht recht sagen. Du wirst dich gezwungen sehen, rücksichtsvoll gegen ihn zu sein. Er wird uns sehr leid tun. Du kannst ihn doch natürlich nicht einfach betrügen, also wirst du ihm etwas dafür zu geben suchen. Na, und so weiter. Und was das Wichtigste ist: Du wirst ihn zwingen, daß er sein Bestes hergibt. Das kannst du doch nicht leugnen, daß wir in uns stecken wie die Figuren in einem Steinblock. Man muß sich aus sich herausarbeiten! Man muß sich gegenseitig dazu zwingen!«
    »Gut« sagte Ulrich; »aber du setzt viel zu schnell voraus, daß es geschehen wird.«
    Clarisse lächelte wieder. »Vielleicht vorschnell!« sagte sie. Sie näherte sich ihm und hing freundschaftlich ihren Arm in den seinen, der schlaff vom Körper hängen blieb, ohne ihr Platz zu bereiten. »Gefalle ich dir nicht? Hast du mich nicht gern?« fragte sie. Und als Ulrich keine Antwort gab, fuhr sie fort: »Ich gefalle dir, das weiß ich doch; ich habe oft genug bemerkt, wie du mich anschaust, wenn du bei uns bist! Erinnerst du dich, ob ich dir schon einmal gesagt habe, du bist der Teufel? Mir ist so. Versteh mich gut: Ich sage nicht, du bist ein armer Teufel, das ist einer, der das Böse will, weil er es nicht besser versteht; du bist ein großer Teufel, du weißt, was gut wäre, aber du tust gerade das Gegenteil von dem, was du möchtest! Du findest das Leben, wie wir alle es führen, abscheulich, und darum sagst du zum Trotz, man soll es weiterführen. Und du sagst furchtbar anständig: ‚Ich betrüge meine Freunde nicht!‘, aber du sagst es bloß, weil du dir schon hundertmal gedacht hast: ‚Ich möchte Clarisse haben!‘ Aber weil du ein Teufel bist, hast du auch etwas von Gott in dir, Ulo! Von einem großen Gott! Einem, der lügt, damit man ihn nicht erkennen soll! Du möchtest mich –«
    Sie hatte statt eines Arms jetzt seine beiden Arme ergriffen und stand mit emporgehobenem Gesicht vor ihm, den Leib wie eine Pflanze zurückgebogen, die man sanft an der Blüte anfaßt. »Jetzt wird es gleich wieder über ihr Gesicht strömen, so wie damals!« fürchtete Ulrich. Aber es geschah nicht. Ihr Gesicht blieb schön. Sie hatte nicht ihr gewöhnliches schmales Lächeln, sondern ein geöffnetes, das mit dem Fleisch der Lippen zugleich ein wenig die Zähne zeigte, als wollte sie sich wehren, und die Form ihres Mundes bildete den doppelt geschwungenen Bogen des Liebesgotts, der sich in den Hügeln der Stirn wiederholte und über ihnen noch einmal in der lichtdurchstrahlten Wolke des Haars.
    »Du möchtest mich längst zwischen die Zähne deines Lügenmunds nehmen und forttragen, wenn du es nur über dich brächtest, dich mir zu zeigen, wie du bist!« war Clarisse fortgefahren. Ulrich machte sich
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