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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Autoren: Robert Musil
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kulissenhafte Unsicherheit der Straßenwände einen Augenblick stillhielt, war er auf das unbekannte Wesen gestoßen, das ihn in der Mordnacht bei der Brücke erwartete. Welch wunderbares Erkennen mußte das gewesen sein, vom Kopf bis zu den Sohlen: Ulrich glaubte einen Augenblick es sich vorstellen zu können! Er fühlte, daß ihn etwas hochhob, wie das eine Welle tut. Er verlor das Gleichgewicht, aber er brauchte es nicht, dahingetragen in der Bewegung. Sein Herz zog sich zusammen, aber das Vorstellen verwirrte sich dabei in einer unbegrenzten Erweiterung und hörte alsbald in einer Art fast entmachtender Wollust auf. Er suchte sich zu ernüchtern. Er hatte offenbar so lange an einem Leben ohne innere Einheit festgehalten, daß er nun sogar einen Geisteskranken um seine Zwangsvorstellungen und den Glauben an seine Rolle beneidete! Aber Moosbrugger lockte ja nicht nur ihn, sondern alle anderen Menschen auch? Er hörte in sich Arnheims Stimme fragen: »Würden Sie ihn befreien?« Und sich antworten: »Nein. Wahrscheinlich nein.« – »Tausendmal nein!« fügte er hinzu und fühlte trotzdem wie eine Blendung das Bild eines Handelns, worin das Zugreifen, wie es aus höchster Erregung folgt, und das Ergriffenwerden in einem unbeschreiblichen gemeinsamen Zustande eins wurden, der Lust von Zwang, Sinn von Notwendigkeit, höchste Tätigkeit von seligem Empfangen nicht unterscheiden ließ. Flüchtig erinnerte er sich an die Auffassung, daß solche Unglücksgeschöpfe die Verkörperung unterdrückter Triebe seien, an denen alle teilhaben, die Fleischwerdung ihrer Gedankenmorde und Phantasieschändungen: So mochten dann die, die daran glaubten, in ihrer Art mit ihm fertig werden und ihn zur Wiederherstellung ihrer Moral justifizieren, nachdem sie sich an ihm gesättigt hatten! Sein Zwiespalt war ein anderer und gerade der, daß er nichts unterdrückte und dabei sehen mußte, daß ihn aus dem Bild eines Mörders nichts Fremderes anblickte als aus anderen Bildern der Welt, die alle so waren wie seine eigenen alten Bilder: halb gewordener Sinn, halb wieder hervorquellender Unsinn! Ein entsprungenes Gleichnis der Ordnung: das war Moosbrugger für ihn! Und plötzlich sagte Ulrich: »Alles das –!« und machte eine Bewegung, als würde er etwas mit dem Handrücken zur Seite schleudern. Er hatte es nicht zu sich gesagt, er hatte es laut gesagt, schloß jäh die Lippen und führte den Satz nur stumm zu Ende: »Alles das muß entschieden werden!« Er wollte nicht mehr im einzelnen wissen, was »alles das« sei; »alles das« war, was ihn beschäftigt und gequält und manchmal auch beseligt hatte, seit er seinen »Urlaub« genommen, und in Fesseln gelegt wie einen Träumenden, in dem alles möglich ist bis auf das eine, aufzustehn und sich zu bewegen; alles das führte auf Unmöglichkeiten, vom ersten Tag bis zu den letzten Minuten dieses Nachhausewegs! Und Ulrich fühlte, daß er nun endlich entweder für ein erreichbares Ziel wie jeder andere leben oder mit diesen »Unmöglichkeiten« Ernst machen müsse, und da er nun in die Umgebung seiner Wohnung gelangt war, durcheilte er die letzte Gasse mit dem sonderbaren Gefühl, daß ihm etwas nahe bevorstehe. Es war ein beflügelndes, zu einer Tat strömendes, aber inhaltleeres und dadurch wieder eigenartig freies Gefühl.
    Vielleicht wäre es ebenso vorbeigegangen wie viele andere; aber als er in die Straße einbog, worin er wohnte, bemerkte er nach wenigen Schritten, daß die Fenster seines Hauses erleuchtet waren, und kurze Zeit später, als er vor dem Gittertor seines Gartens stand, war das unbezweifelbare Gewißheit. Sein alter Diener hatte gebeten, die heutige Nacht außer Haus bei Verwandten in einer anderen Gegend zubringen zu dürfen, er selbst war seit dem Erlebnis mit Gerda, das sich noch in Tageshelle abgespielt hatte, nicht zu Hause gewesen, die Gärtnersleute, die er im Unterstock beherbergte, betraten niemals seine Räume: aber überall brannte Licht, es schienen fremde Leute bei ihm zu sein, Einbrecher, die er überraschte. Ulrich war so verwirrt und hatte so wenig die Absicht, sich diesem ungewöhnlichen Gefühl zu entziehn, daß er ohne Zögern auf sein Haus zuschritt. Er erwartete nichts Bestimmtes. Er sah Schatten an den Fenstern, die auf einen einzelnen Menschen schließen ließen, der sich hinter diesen bewegte; es mochten aber auch mehrere sein, und es fragte sich, ob man auf ihn schießen werde, wenn er sein Haus betrete, oder ob er sich selbst schußfertig machen
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