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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Autoren: Robert Musil
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entrichten muß. Sie blieb allein im Zimmer zurück, da sich Ulrich für einige Augenblicke entschuldigte, um die Anordnungen für seine Abreise zu treffen. Als sie nach dem heftigen Auftritt, den sie miteinander gehabt, Walter verlassen hatte, war sie nicht weit gegangen, denn vor der Türe ihrer Wohnung führte eine selten benutzte Stiege zum Boden hinauf, und dort war sie, in ein Tuch gehüllt, sitzen geblieben, bis sie ihren Gatten das Haus verlassen hörte. Sie wußte irgendetwas von Schnürböden in Theatern; dort oben, von wo die Seile laufen, saß sie also, während Walter seinen Abgang über die Treppe hatte. Sie malte sich aus, daß die Schauspielerinnen in ihren Spielpausen, wo sie nichts zu tun hatten, in Tücher geschlagen in dem Gebälk über der Bühne sitzen und zusehen; sie war jetzt auch eine solche Schauspielerin und hatte alle Vorgänge unter sich zu Füßen. Darin kam wieder ihr alter Lieblingsgedanke hervor, daß das Leben eine schauspielerische Aufgabe sei. Man braucht es gewiß nicht mit der Vernunft zu begreifen – dachte sie; was weiß man denn überhaupt davon, selbst wenn einer mehr wußte als sie. Aber man muß den richtigen Instinkt für das Leben haben, wie ein Sturmvogel! Man muß seine Arme – und das hieß nun bei ihr: seine Worte, seine Küsse, seine Tränen – ausspannen wie Flügel! In dieser Vorstellung fand sie einen Ersatz dafür, daß sie nicht mehr an Walters Zukunft glauben konnte. Sie sah das steile Treppenhaus hinunter, das Walter hinabgestiegen war, breitete die Arme aus und hielt sie in dieser Lage erhoben, so lange sie vermochte: vielleicht konnte sie ihm dadurch helfen! »Steil aufwärts und steil abwärts sind in ihrer Stärke feindlich verwandt und gehören zusammen!« dachte sie. »Jubelnde Weltschräge« nannte sie ihre ausgebreiteten Arme und den Blick in die Tiefe. Sie ließ den Vorsatz fahren, heimlich den Kundgebungen in der Stadt zuzusehen; was ging sie die »Herde« an, das ungeheure Drama der Einzelnen hatte begonnen!
    So war Clarisse zu Ulrich gegangen. Sie hatte unterwegs manchmal ihr listiges Lächeln gezeigt, wenn sie daran dachte, daß Walter sie für verrückt halte, sobald sie etwas von ihrer höheren Einsicht in ihrer beider Zustand merken ließ. Es schmeichelte ihr, daß er sich davor fürchtete, ein Kind von ihr zu bekommen, und es doch kaum erwarten konnte; sie verstand unter »verrückt« etwa so viel wie einem Wetterleuchten ähnlich zu sein oder sich in einem solchen hohen Zustand von Gesundheit zu befinden, daß es andere erschreckt, und es war eine Eigenschaft, die sich in ihrer Ehe entwickelt hatte, Schritt um Schritt, so wie ihre Überlegenheit und beherrschende Stellung wuchs. Immerhin wußte sie aber, daß sie manchmal den anderen unverständlich war, und als Ulrich wieder eintrat, hatte sie das Gefühl, ihm etwas sagen zu müssen, wie es sich bei einem Ereignis gehörte, das in sein Leben so tief einschnitt. Sie sprang rasch von ihrem Diwan auf, durchschritt einigemal das Zimmer und die angrenzenden Räume und sagte dann: »Also mein herzlichstes Beileid, alter Junge!«
    Ulrich sah sie erstaunt an, obwohl er diesen Ton schon an ihr kannte, wenn sie nervös war. »Sie hat dann manchmal etwas so unvermittelt Konventionelles,« dachte er »wie wenn in ein Buch versehentlich eine Seite aus einem anderen eingebunden ist.« Sie hatte ihm ihren Satz nicht etwa mit dem üblichen Ausdruck zugerufen, sondern von der Seite, über die Schulter weg, und das verstärkte diese Wirkung, daß man nicht einen falschen Ton zu hören glaubte, sondern einen verwechselten Text, und den nicht ganz geheuren Eindruck empfing, sie selbst bestehe aus mehreren solcher Textlagen. Sie blieb jetzt, da Ulrich nicht antwortete, vor ihm stehen und sagte: »Ich muß mit dir reden!«
    »Ich möchte dir gerne eine Erfrischung anbieten« sagte Ulrich.
    Clarisse bewegte nur zum Zeichen der Ablehnung die aufgerichtete Hand in Schulterhöhe rasch hin und her. Sie nahm ihre Gedanken zusammen und begann: »Walter will durchaus ein Kind von mir. Verstehst du das?« Sie schien auf Antwort zu warten.
    Was hätte Ulrich erwidern sollen?
    »Ich will aber nicht!« rief sie heftig aus.
    »Sei doch nicht gleich bös« meinte Ulrich. »Wenn du nicht willst, kann es ohnehin nicht geschehn.«
    »Aber daran geht er zugrunde!«
    »Leute, die jederzeit zu sterben meinen, leben lang! Du und ich werden längst verhutzelt sein, aber Walter wird noch unter weißem Haar und als Direktor seines
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