Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
sanft los. Sie ließ sich auf dem Diwan nieder, als hätte er sie dorthin gesetzt, und zog ihn nach.
    »Du solltest nicht so übertreiben« verwies ihr Ulrich ihre Worte.
    Clarisse hatte ihn losgelassen. Sie schloß die Augen und stützte den Kopf in beide Arme, deren Ellbogen sich auf die Knie stemmten; ihr zweiter Angriff war abgeschlagen, und sie hatte jetzt die Absicht, Ulrich durch eisige Logik zu überzeugen. »Du brauchst dich nicht an die Worte zu halten« antwortete sie; »das sind Redensarten, wenn ich Teufel sage oder Gott. Aber wenn ich allein zu Haus bin, gewöhnlich den ganzen Tag, und in der Umgebung herumstreife, habe ich mir früher oft gedacht: Gehe ich jetzt links, so kommt Gott, gehe ich rechts, so kommt der Teufel. Oder ich habe dasselbe Gefühl gehabt, wenn ich etwas in die Hand nehmen sollte und konnte es rechts oder links tun. Wenn ich das Walter gezeigt habe, so hat er die Hände aus Angst in die Taschen gesteckt! Er freut sich an den Blumen oder schon an einer Schnecke; aber sag, ist das Leben, das wir führen, nicht furchtbar traurig? Es kommt weder Gott noch Teufel. So gehe ich schon jahrelang herum. Was kann denn kommen?! Nichts: das ist alles, wenn mit der Kunst nicht noch durch ein Wunder eine Änderung glückt!«
    Sie machte in diesem Augenblick einen so sanft traurigen Eindruck, daß sich Ulrich verleiten ließ, ihr weiches Haar mit der Hand zu berühren. »Du magst im einzelnen schon recht haben, Clarisse,« sagte er »aber ich verstehe bei dir nie die Zusammenhänge und Sprünge der Folgen.«
    »Die sind einfach« antwortete sie, noch in der gleichen Haltung wie zuvor. »Ich habe mit der Zeit eben eine Idee bekommen: Hör zu!« Nun richtete sie sich aber auf und war plötzlich wieder lebhaft. »Hast du nicht selbst einmal gesagt, daß der Zustand, in dem wir leben, Risse hat, aus denen sozusagen ein unmöglicher Zustand hervorschaut. Du brauchst nichts zu erwidern; ich weiß das schon lange. Jeder Mensch will natürlich sein Leben in Ordnung haben, aber keiner hat es! Ich mache Musik oder male; das ist aber so, wie wenn ich eine spanische Wand vor ein Loch in der Mauer stellen würde. Du und Walter habt außerdem Ideen, davon verstehe ich wenig, aber irgendetwas stimmt dabei auch nicht, und du hast gesagt, daß man zu diesem Loch aus Trägheit und Gewohnheit nicht hinsieht oder sich mit bösen Dingen davon ablenkt. Nun, das Weitere ist einfach: durch dieses Loch muß man hinaus! Und ich kann das! Ich habe Tage, wo ich aus mir hinausschlüpfen kann. Dann steht man – wie soll ich das sagen? – wie geschält zwischen den Dingen, von denen auch die schmutzige Rinde abgezogen ist. Oder man ist mit allem, was dasteht, durch die Luft wie ein zusammengewachsener Zwilling verbunden. Es ist ein unerhört großartiger Zustand; alles geht ins Musikalische und Farbige und Rhythmische, und ich bin dann nicht die Bürgerin Clarisse, als die ich getauft bin, sondern vielleicht ein glänzender Splitter, der in ein ungeheures Glück eindringt. Aber das weißt du ja alles selbst! Denn das hast du gemeint, wenn du gesagt hast, daß die Wirklichkeit einen unmöglichen Zustand in sich hat und daß man seinen Erlebnissen nicht die Wendung zu sich geben und sie nicht als persönlich und wirklich ansehen darf, sondern daß man sie, wie gesungen oder gemalt, hinauswenden muß und so weiter und so weiter: ich könnte dir alles ja ganz genau wiederholen!« – Dieses »und so weiter« kehrte wie ein wilder Reim wieder, während Clarisse überstürzt weitersprach, und fast jedesmal schloß sie die Behauptung daran: »Und du hast die Kraft dazu, aber du willst nicht; ich weiß nicht, warum du nicht willst, aber ich werde an dir rütteln!!«
    Ulrich hatte sie sprechen lassen; er hatte hie und da stumm verneint, wenn sie ihm etwas zuschrieb, was sich zu weit vom Möglichen entfernte, fand aber nicht den Willen in sich, Einspruch zu erheben, und ließ seine Hand auf ihrem Haar ruhen, darunter er das wirre Pulsen dieser Gedanken fast mit den Fingerspitzen fühlte. Er hatte Clarisse noch nie so sinnlich erregt gesehen, und es machte fast einen wunderlichen Eindruck auf ihn, daß auch in ihrem schmalen, harten Körper alle Lockerung und weiche Ausbreitung des weiblichen Erglühens Platz fand, wobei die ewige Überraschung, daß sich eine Frau, die man für alle nur geschlossen gekannt hat, plötzlich öffnet, ihre Wirkung auch diesmal nicht verfehlte. Ihre Worte stießen ihn aber nicht ab, obwohl sie die Vernunft
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher