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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Selbstverständlich mit Bad. Und mit einer »Hausfrau«, einer Vermieterin, die zweimal pro Woche nach dem Rechten sieht. Zu wissen, wie ich wirklich wohne, möchte ich ihnen nicht zumuten. Ich will auch nicht ihre sorgenvollen Blicke spüren. Vor allem das nicht. Die Zeiten, da man mich als Muttersöhnchen vor allem beschützen mußte, besonders vor der Wirklichkeit, sind endgültig vorbei, habe ich beschlossen.
    Ich kann nicht mehr, wasche mich notdürftig, falle ins Bett, schlafe sofort ein. Träume von Dolores’ Beinen, hundertmal hintereinander verlangt und besungen, von Händen, denen die Tasten plötzlich fremd geworden sind, die die Töne nicht mehr finden, meiner Stimme, die unkontrollierbar geworden ist. Ich spüre den Schweiß auf der Stirn, den Puls in den strapazierten Armen. Nur weg hier!
    Ich breite die Arme aus, hebe mich wie ein Vogel vom Klavier in die Luft, kann plötzlich fliegen, bin ganz weit weg, unerreichbar. Nie gehörte Klänge. Wilde Akkorde. Das müßte man aufschreiben können. Ich bin zu müde. Kann jetzt nicht denken. Grelles Licht. Scheinwerfer. Eine große Bühne. Ein großes Orchester, davor ein
großes, schwarzes Klavier. Ein bißchen wie ein Sarg. Die Angst meiner Kindheit. Ich muß da jetzt raus, auf diese Bühne, an dieses Klavier, muß es bezwingen. Ein Schrei aus tausend Kehlen. Ich kann es! Bin ganz bei mir. Jetzt gelingt mir einfach alles. Schweben in eigenen Harmonien. Verstanden werden, geliebt werden, tausendfach. Ja! Das ist es! Am Ziel sein und doch nicht verweilen. Auf zu neuen Klängen! Im Rhythmus des eigenen Herzschlags. Mein Puls bestimmt die Zeit. - »Es ist Zeit!« - »Es ist Zeit!« - Energisch rüttelt Buddy mich wach:
    »He! Aufstehen! Es ist Zeit! Schon nach 12! München wartet!«

Die Nacht von München
    München. Nach fünf Stunden Fahrt über die ramponierte, holprige Autobahn endlich am Ziel. Immer noch sind Brücken und Verbindungsstücke zerstört, zwingen uns, auf die alte Wasserburger Landstraße auszuweichen. Überall Baustellen. Dichter Verkehr. Die Menschen sind unterwegs wie noch nie. Mobilität ist wichtig geworden, auch für mich. Das Auto muß ich auch noch abbezahlen, denke ich. Ein alter, dunkelgrüner, gebrauchter VW-Käfer. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mir von meinem Vater Geld geliehen. 5000 Schilling, ein unvorstellbarer Betrag, den ich nun in Monatsraten abstottere.
    Der Regen hat sich verzogen. Die Sonne strahlt. Ein herrlicher Spätsommertag. Im Autoradio unser Lieblingssender RIAS Berlin. - »Rundfunk im amerikanischen Sektor«. Auf Langwelle bis weit über die Zonengrenzen hinaus zu hören. Eigenproduktionen mit dem Orchester Werner Müller. Was für ein Orchester! Dort müßte man mal spielen! Guter Empfang. Heute ist mein Glückstag!
    In Schwabing mieten wir uns in einer kleinen, billigen Pension ein. Ein Dreibettzimmer. Buddy hat das irgendwie günstig organisiert. »Sofort auf die Wies’n«, beschließen wir.
    Lärm, Buden, Geruch nach gebratenen Hähnchen, Zuckerwatte,
Bratwurst, Brezen, Lebkuchen. »Wahnsinn, diese Menschen«, staunen wir angesichts der Massen. Ein Riesenrad, Blick über die ganze Stadt, Baustellen, wohin man schaut. Auch Luxushäuser werden gebaut. Es geht aufwärts! »Aufschwung« heißt das neue Zauberwort, das aus der Tristesse wieder bunte Hoffnung macht.
    Wieder auf dem Boden. Schießbuden, eine Geisterbahn. Gruseln für die Kleinsten mit garantiertem Happy-End. Eine Märchenwelt. Schön, daß diesen Kindern das wirkliche Grauen, das wir alle erlebt haben, erspart bleibt! Hoffentlich für immer.
    Wir lassen uns treiben, fröhlich im Strom der Masse. An gar nichts denken. Staunen wie ein Kind. Einfach genießen. Vielleicht auch Dummheiten machen. Mal unbeschwert sein.
    Irgendwo eine Bratwurst mit Sauerkraut an einem Stand. »Bestimmt hab ich noch nie in meinem ganzen Leben eine so gute Bratwurst gegessen«, übertreibe ich meine Begeisterung sofort. Dann ins Zelt. Das »Augustiner« soll das älteste und traditionsreichste sein, hat man uns gesagt. Nichts wie hin!
    Das Zelt ist überfüllt. Menschen, wohin man blickt. 6000 Plätze soll es hier geben. So eine Menge habe ich noch nie gesehen. In der Mitte ein Podium. Großes Blasorchester in Lederhosen. Stimmungsmusik. Die Leute singen die Refrains mit. Gesang aus tausend Kehlen. Ein unglaublicher Klang. Die gemeinsame Stimme einer großen Menge ergänzt sich immer zu einem harmonischen Ganzen, auch wenn jeder einzelne den Ton verfehlt. Eine
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