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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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See, existierte nur noch in den wenigen Briefen und bunten Postkarten aus aller Welt, um die Heinrichs Spielkameraden ihn immer beneidet hatten.
    Nun trieb es auch ihn fort, so stark die Stimme der Ungewißheit im Moment in ihm auch war und ihn zu halten suchte. Er wird gehen. In wenigen Tagen. Nur wohin, das weiß er noch nicht.
    Die goldene Taschenuhr des Vaters, sein Abschiedsgeschenk, fühlt sich schwer an, fremd. Noch berührt er sie ein wenig distanziert, voll Respekt vor ihrem unschätzbaren Wert - und vor dem Gefühl, sie sich erst noch verdienen zu müssen. Noch öffnet er ein wenig verstohlen den Deckel, wie früher, als er heimlich mit ihr spielte. Manchmal ertappte sein Vater ihn damals dabei, lächelte, nahm ihm die Uhr aus der Hand, sagte: »Das ist eine Zauberuhr! Wenn dir die Zauberkräfte hold sind, kannst du sie mit deinem Atem öffnen.« Er ging in die Hocke, um mit Heinrich auf Augenhöhe zu sein, hielt sie ihm vor sein ungläubig-gespanntes Gesicht. »Puste!« Heinrich gab sich Mühe. »Das kannst du aber besser! Fester!« Heinrich pustete mit all seiner Kraft. »Noch mal!« Da sprang wie von Zauberhand der Deckel auf, und die Uhr machte summend und bimmelnd und klingend die Zeit hörbar. Zauberkraft … die könnte er jetzt wirklich brauchen. Heinrich lächelt, schließt den Deckel wieder, steckt die Uhr in seine Tasche. Die Zeit bis zu seiner Abreise möchte er gar nicht ermessen.
    Duft nach Zimt und Mandeln aus jedem Haus. Schnaubende Pferde, knirschendes Zaumzeug. Ein zugerufener Gruß. Menschen auf dem Weg in die Stadt. Der Schnee dämpft die Geräusche der Straße, macht sie weicher, sanfter. Alles Alltägliche erscheint Heinrich heute besonders, festhaltenswert. Seit Kindertagen zieht es ihn in die Ferne. Stundenlang hatte er schon als kleiner Junge den Globus im Arbeitszimmer des Vaters studiert, sich die wohlklingenden Namen ferner Länder, fremder Städte eingeprägt, sich vorgestellt, sie später einmal alle zu bereisen.
    Nun war der Zeitpunkt gekommen, wegzugehen, sich irgendwo
in der Welt einen Platz zu suchen. Nur wo, das zu entscheiden, fällt ihm schwer. Beim letzten Besuch seines Vaters hatte er ihn um Rat gefragt. Man hatte in großer Runde mit Freunden und deren Familien zusammengesessen. Von Amerika hatte der Vater ihm abgeraten. Natürlich könne er mitfahren auf der »Henriette«, auf der Überfahrt arbeiten und sich damit die Kosten für die Reise verdienen. Natürlich sei das eine Möglichkeit, und sehenswert sei das Land allemal, aber zum Leben? Eher nicht. Es sei auf einem unheilvollen Weg. Unruhen, Aufstände, Streiks, die Stimmung gereizt, nervös. Es wimmle von gescheiterten Existenzen, Kriminellen, ein undurchschaubarer Sumpf, und die Wirtschaft sei auch nicht gerade stabil. Schwierig schon für die Etablierten, aber bestimmt kein gutes Pflaster für einen jungen Mann, der seinen Weg machen wolle. Und dann die Entfernung zu Europa, der unvergleichlichen europäischen Kultur … Der ganze Atlantik dazwischen … Diese Weite beeindrucke sogar ihn selbst noch. Nach all den Jahren, die er diese Strecke nun schon befuhr … Die Freunde des Vaters waren seiner Meinung.
    Aber Rußland , das sei eine Überlegung wert. Ein junger Maat auf seinem Schiff stamme aus Sankt Petersburg. Was der so erzähle! Es müsse ein unvergleichlich glanzvolles Land sein und vor allem offen, das Land der Starken, so sagte man, das Land, in dem man mit einer Idee und harter Arbeit alles erreichen konnte. Besonders als Deutscher. Die vielen deutschen Einwanderer dort hatten großes Ansehen, Einfluß und Macht erlangt. In ihrem Kreis konnte man sich etablieren. Das wäre vielleicht das richtige für Heinrich. Die Knoops, Freunde des Vaters, hatten begeistert zugestimmt. Man habe Verwandte in Moskau. Die könnten Heinrich bestimmt Adressen für eine Stellung vermitteln. Rußland sei wundervoll! Man sei selbst schon dagewesen! Herrlich! Der Glanz des Zarenhauses, die Kultur, die Weltoffenheit … Dort sei wirklich alles möglich.
    Also Rußland? Heinrich zögert noch. Er muß sich bald entscheiden. Mit Jahresbeginn möchte er sein neues Leben beginnen, so hatte er sich vorgenommen, und was man sich vornahm, das hielt man auch ein.
    Vielleicht könnte er ja auch in eine andere der europäischen Metropolen gehen? Adressen hatte er sich von überallher besorgt. Die
Freunde seines Vaters hatten Kontakte in aller Herren Länder. Vielleicht sollte er sich mit einem etwas kleineren Schritt
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