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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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begnügen?
    Rußland war sicher die exotischste der Möglichkeiten. Dort wäre ihm der größte Aufstieg möglich, aber auch das größte Versagen. Es würde alles in seiner Hand liegen. Also eigentlich genau das, was er suchte, auch wenn er manchmal sogar mit dem Gedanken an ein ganz normales Leben spielte: Er könnte sich einfach in Bremen eine Stelle suchen, vielleicht in einiger Zeit sogar um Katharinas Hand anhalten …
    Ja, Katharina. Bei dem Gedanken an ihre warme, weiche Stimme, ihr feines, fröhliches Gesicht, ihre langen blonden Haare, wurde ihm gleichzeitig heiß und kalt. Diese Gefühle kamen zur falschen Zeit. Zu spät. Oder auch zu früh. Er kannte sie noch nicht lange genug, um ihretwegen seine Pläne zu ändern und hierzubleiben. Es wäre wie das Eingeständnis eines Versagens gewesen. Er konnte sie aber auch nicht bitten, auf ihn zu warten. Er hatte daran gedacht, doch zu ungewiß war seine Zukunft, zu wenig klar umrissen die Zeit, die er brauchen würde, um sich zu etablieren, um ihr dort, wohin er ging, ein angemessenes Heim bieten zu können. Die Ungewißheit seines Lebens konnte er ihr nicht zumuten, das war ihm in den letzten Wochen des Kampfes mit sich selbst klargeworden. Damit mußte er fertig werden. Es fiel ihm schwer.
    Er wirft eine Münze von der Brücke aus in einen der romantischen Kanäle der Weser. Ein kleines Ritual, wie immer, wenn es im Leben für ihn darauf ankam. Es sollte ja bekanntlich Glück bringen, und Glück konnte er brauchen.
    Plötzlich aus der Ferne leise ein ganz besonderer, seltsam anrührender Klang, der ihn merkwürdig berührt. Er lauscht, folgt seiner Richtung, verliert ihn wieder, hält den Atem an.
    Da ist er wieder, leise und doch deutlich hörbar, abgesetzt von den Alltagsgeräuschen und den Klängen des Weihnachtsmarktes, eine ganz eigene Stimme im Chor der Töne, allem anderen unterlegt, als wäre er mit seiner sonderbar melancholisch-fröhlichen Melodie das Fundament für alle anderen Klänge und Farben dieses Tages.
    Unbewußt versucht Heinrich die Richtung auszumachen, aus der er erklingt und folgt ihm wie selbstverständlich, ohne daß er es
beschlossen, sich aus einer Laune heraus oder aus Langeweile dazu entschieden hat. Es war zwingender. Er hatte in diesem Augenblick keine Wahl.
    Es kommt aus der Richtung des Marktplatzes, da ist Heinrich sich mittlerweile sicher. Es klingt tiefer als eine Oboe und erhabener als eine Klarinette. Es ist weicher als eine Posaune und rauher als eine Flöte. Heinrich lauscht. Es ist kein Instrument, das man Tag für Tag hört. Vielleicht ist es ja ein Musiker, der zu Hause übt, bei geöffnetem Fenster, aber das ist unwahrscheinlich. Dazu ist der Klang zu präsent, nicht gedämpft durch Mauern und Fenster. Es schweigt, einen Augenblick nur, dann setzt es wieder ein. Er muß jetzt ganz nah sein.
    Heinrich tritt aus dem Dunkel der Arkaden und bleibt erstaunt stehen. Der Mann steht etwas abseits des Weihnachtsmarktes. Er trägt eine merkwürdige, prächtig-bunte Verkleidung, einen dunkelblauen Gehrock mit rot umfaßten goldenen Knöpfen, eine dunkle Hose und auf dem Kopf einen schwarzen, zerknitterten Zylinder. Seine Haltung leicht nach vorn gebeugt. Und er spielt auf einem Fagott.
    Das war kein Instrument für einen Straßenmusikanten. Und der Mann sieht auch nicht aus wie ein gewöhnlicher Straßenmusikant. Er spielt ein bekanntes Stück, eine ganz einfache Melodie, die Heinrich irgendwoher kennt und doch nicht zu benennen weiß. Es klingt nach einem russischen Volkslied. Unverkennbar. Erstaunlich bitter und traurig die Verse und auf eine seltsame Weise fröhlich und doch nicht unbeschwert der rhythmische, sich ständig steigernde Refrain, als müsse man die Traurigkeit der Welt nur intensiv genug erleben, um sie in etwas Schönes zu verwandeln. Die dunklen Augen des Mannes strahlen, ruhen ganz in sich selbst. Irgendwo hat er diese Augen schon einmal gesehen, denkt er, doch er weiß nicht, wo. Vielleicht im Traum.
    Einige Passanten bleiben stehen, versammeln sich um den Fagottisten, klatschen begeistert im immer schneller werdenden Rhythmus der Melodie. Das bunte Treiben des Weihnachtsmarktes verblaßt, so lange er spielt, das kleine Karussell, die bunten Stände mit Lebkuchen und Mandeln und Zimtsternen, der Leierkastenmann mit den Weihnachtsliedern. Das alles kann warten. Heinrich fragt sich, was es mit dem Spiel, der Verkleidung auf sich haben könnte.
Für einen Bettler ist die Kleidung zu gut, die Erscheinung des
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