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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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in sich trägt. Nicht abgefedert von Illusionen, aber ein wenig gemildert durch Träume, Hoffnungen, Chancen, die sich auftun und wieder zerschlagen.
    Ein erster Schritt: Ein Engagement in einem Musikcafé von halb acht Uhr abends bis halb fünf Uhr morgens, danach eine Kleinigkeit essen, ins Bett, wenn andere aufstehen, schlafen bis zum Nachmittag. An Wintertagen die Sonne kaum gesehen. Oft kein Gefühl mehr für Raum und Zeit. Spielen, um zu existieren, in einem ganz und gar prosaischen Sinne. Und doch ist es das, was ich will und immer wollte: Musiker sein. Wie auch immer.
    Und ich fühle es, sobald ich am Klavier sitze, selbst um vier Uhr morgens. Das ist mein Leben. Ungeordnet, in den Tag hineingelebt und in die Töne, hoffen auf ein Engagement. Kleine Ziele und große Sehnsüchte. Manchmal auch Angst. Bin ich auf dem richtigen Weg? Ist da, wo ich Fuß zu fassen suche, überhaupt ein Weg für mich?

    In etwas mehr als 24 Stunden bin ich volljährig. Uneingeschränkt selbstverantwortlich für mich und für mein Leben. Werde ich die Erwartungen meiner Eltern erfüllen? Und meine eigenen? Bloß weg mit zuviel Nachdenklichkeit.
    Ein neuer Drink wird auf mein Klavier gestellt. »Von den Herren da drüben«, sagt der Kellner. Ich folge seiner Geste, grüße die beiden amerikanischen Soldaten in Uniform, die ihre letzten Tage in diesem Land verbringen, das bald seine Unabhängigkeit zurückerhalten wird. Jeder ein Mädchen im Arm. Sie sind schon oft hier gewesen. Ich weiß, was jetzt kommt:
    »Play ›Funny Valentine‹«, ruft der eine mir zu. Es ist seine Lieblingsnummer. Bald geht’s zurück in die USA; gemäß Staatsvertrag. »Especially for you«, kündige ich mit einer gespielt großen Geste an und gebe den Einsatz. Ein schönes Lied, in dem ich mich sofort zu Hause fühle, nicht weniger als die jungen Amerikaner. Das ist unsere Musik: Gefühlvolle Balladen, Swing, Improvisationen, der freie Geist einer neuen, freien Zeit. Instinktiv spüre ich: So wird die Musik klingen, die auch im alten Europa die Jugend und die Zukunft beeinflussen, bewegen und anregen wird. Die Amerikaner sind sichtlich berührt. Ich auch. Erste Erfahrungen mit der unvergleichlichen Spannung zwischen Bühne und Publikum. Ich atme auf, lebe auf. Die Müdigkeit verfliegt in den Tönen.
    Im Café Esplanade haben sich die letzten Gäste der Nacht versammelt. Theaterbesucher in Smoking und Abendkleid, Studenten, die an einem Tisch nahe der Bühne über die neue Zeit des Aufbruchs diskutieren, Touristen, die von der Musik, die an jenem Herbstabend leise auf die Straße gespült wird, angezogen wurden, Stammgäste, Musikerkollegen und Kellner aus anderen Lokalen, die früher schließen, Taxifahrer, die noch ein wenig Gesellschaft suchen, ehe sie nach einer langen Schicht nach Hause gehen. Selbst Reisende, die am nahen Bahnhof angekommen sind und noch nicht nach Hause wollen, schauen manchmal bei uns vorbei. Man sehnt sich in dieser langsam aus den Trümmern des Krieges wiederauferstehenden Stadt nach ein wenig Wärme, nach Begegnungen, Lebendigkeit. Das typische Publikum eines frühen Donnerstagmorgens.
    Der Qualm von Zigaretten und Zigarren sorgt für diffuses Licht. Kellner servieren die letzten Drinks. Meine Arme schmerzen,
wie immer um diese Zeit. Seit dem frühen Abend spiele ich praktisch ohne Pause. Noch eine halbe Stunde, denke ich. »Honey Suckle Rose«, raune ich den Jungs von der Band zu. F-Dur. Ich spiele acht Takte Einleitung. Verdammt, das Klavier ist schon wieder verstimmt, ärgere ich mich und male mir mit wenig Begeisterung die immer wieder geführten Diskussionen mit unserem Chef aus, der nur selten bereit ist, die Kosten für einen Klavierstimmer zu tragen.
    »Wie stellst du dir das vor?!« jammerte er immer wieder, »das hier ist schließlich nicht das Grand Café Winkler! Wir sind das Esplanade am Bahnhof! Und außerdem hört das doch sowieso keiner!«
    Er konnte nicht ermessen, wie frustrierend es war, auf einem verstimmten Klavier zu spielen, das ohnehin schon ein abgespielter alter Schinken war. Doch egal. Ich spiele, die Band steigt ein.
    Patricia in der Ecke lächelt mir zu. Sie kommt oft hier her. Meistens alleine. Mit ihren 19 Jahren schlägt sie sich so durch. Ich weiß nicht viel über sie, nicht einmal ihren wirklichen Namen. Mädchen mit ihrem Job geben sich gerne klingende Namen. Wahrscheinlich hieß sie in Wirklichkeit Liesl oder Mitzi. Wir haben uns angefreundet, und ich nenne sie Patsy.
    Sie hat eine kleine
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