Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In angenehmer Gesellschaft

In angenehmer Gesellschaft

Titel: In angenehmer Gesellschaft
Autoren: Bernard Glemser
Vom Netzwerk:
1

    So: meine Tochter Jessica ist aus dem Haus gegangen, und ich, die Brautmutter, sitze traurig allein wie alle Mütter aller Bräute. Ach — aber mit welchem Unterschied!
    Ich glaube, eigentlich müßte ich mich freuen, statt traurig zu sein. Sie ist in wirbelnder Aufregung gegangen, hat kaum Zeit für eine letzte Umarmung gehabt. Sie lachte, weinte, hatte Angst davor, zu gehen, und war zugleich wild darauf; ein junges Mädchen, das zu Freude, Abenteuern und einer ganz besonderen Erfüllung ihres Lebens hinausflog. Warum also sitze ich hier und wehklage wie eine alte irische Waschfrau?
    Vielleicht ertrüge ich alles leichter, wenn Jessica nicht mein einziges Kind wäre. Prophezeit worden sind mir einmal viele Kinder. Mein persönlicher Alpdruck, Biddeford Poole, Esquire, hat mir diese Prophezeiung erst vor wenigen Stunden vorgehalten. »Weißt du nicht noch?« rief er, »an einem heißen, staubigen Tag haben wir in einer kleinen Stadt auf Sizilien eine hölzerne Trompete gehört und einen Jungen entdeckt, der dir die Zukunft Voraussagen wollte. Er war höchstens siebzehn, schwarzäugig und schwarzlockig, trug einen großen, spitzen Hut, und du fandest, er sähe wie ein Renaissance-Page aus. Und das Schicksal, das er dir prophezeite: langes Leben, Glück — und viele Kinder.«
    Natürlich wußte ich es noch. Konnte eine Frau so etwas vergessen?! Er war ein so hübscher Junge, mit seinen schwarzen Augen und dem schwarzen Lockenhaar abenteuerlich anziehend; es rührte mich, wie er so auf den Steinfliesen vor dem zerfallenden Palast saß, einen großen schwarzen Hut auf dem Kopf und einen zerrissenen schwarzen Mantel um den mageren Körper gewickelt. Wie romantisch er ist, dachte ich, wie schön und würdevoll saß er und blies auf seiner Holztrompete leise eine traurige, mittelalterliche Melodie. Ich lächelte ihm zu und ließ ihn meine Hand nehmen, aus deren Linien er mein zukünftiges Leben lesen wollte. Fünf Bambinos sah er — nein, sechs, sieben, acht, vielleicht neun. Er zählte sie mit völliger Sicherheit auf. Ich wurde rot und lachte, und Biddeford Poole, Esquire, schlug sich auf die Oberschenkel und brüllte vor Lachen. »Ha-ha-ha-ha! Herrlich, liebe Kate, herrlich!«
    Er log jedoch, der hübsche junge Sizilianer mit dem ernst nach innen gerichteten Blick. Für ein Geldstück im Werte von zehn Cent belog er mich, und ich habe mich seitdem oft gefragt, weshalb seine Prophezeiung nicht eingetroffen war. Ich glaube nicht, daß ich ihm meine Hand heute so leicht überlassen würde wie damals. Wahrscheinlich war er sehr schmutzig, und ich habe ihn in Verdacht, daß er an allen möglichen Krankheiten litt, einen Bandwurm inbegriffen. Was kümmerte es mich? Ich war damals so alt wie Jessica heute, einundzwanzig, verliebt, und Kleinigkeiten wie Bandwürmer regten mich nicht weiter auf. Biddeford Pople hatte mich mit seinem Privatfahrstuhl zu den Sternen hinaufgefahren; es war eine Liebe, die länger als die Ewigkeit dauern würde; und zur richtigen Zeit schenkte ich ihm mit großer Freude das erste der prophezeiten Bambinos. Mein einziges Kind. Jessica.
    Ihre Hochzeitsgeschenke sind über das ganze, ruhige Zimmer verstreut, und ich müßte aufstehen und mich darum kümmern — sie zusammensuchen, in das Einwickelpapier packen, all diese ausgesucht häßlichen bunten Schleifen darum binden. Wie dumm und langweilig und phantasielos die Menschen heutzutage sind! Bis zum letzten Augenblick hatten wir nichts anderes als Salatschüsseln und Cocktailshaker bekommen — Hunderte dieser albernen Dinge, eine richtige Lawine. Haben die Menschen, hat die Welt sich so sehr verändert? Warum sind sie alle so mittelmäßig? Als Pogo und ich geheiratet haben...
    Ah — nein! Zum Teufel mit den Erinnerungen! Erinnerungen sind verächtlich, sind der Fluch der Menschheit. Es sollte überhaupt keine Erinnerungen geben!
    Trotzdem ist es wahr. Als Pogo und ich heirateten, hat nicht ein einziger mir einen Cocktailshaker geschenkt; niemand hätte gewagt, eine Salatschüssel zu schenken. Statt dessen schickte mir ein gewisser Mr. Koo Fung, der das Oberhaupt der Marseiller Chinesen gewesen sein soll, eine Orchidee aus Jade, das Reizendste, was ich je gesehen habe. Und von Julia Hartsdale bekam ich ein Exemplar von »Endymion«, das Keats einmal Fanny Brawne geschenkt hatte — Fannys Anmerkungen stehen auf den Rändern (»Was meint er damit?«... »Zuviel Mitleid mit sich selbst«... »Reimt sich nicht richtig«). Und Sergei Yasalov
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher