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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Autoren: Simon X. Rost
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jetzt konnte er die Tränen nicht zurückhalten. Tom hatte oft Tante Pollys Rute zu spüren bekommen, wenn er frech und ungezogen gewesen war. Sie hatte gebrüllt, gedroht und geschlagen. Aber sie hatte ihn auch in den Arm genommen, hatte ihn getröstet und versucht, ihm die Mutter zu ersetzen, so gut sie konnte. Tom empfand nichts als Dankbarkeit und Liebe, wenn er an sie dachte, und der Gedanke, dass er sie nie wiedersehen würde, zerriss ihm das Herz.
    Ich bin zu spät gekommen. Viel zu spät.
    Verstohlen wischte Tom die Tränen mit dem Ärmel weg. Er versuchte sich abzulenken, indem er die Menschen, die in einer Schlange anstanden, um seinem Bruder Sid die Hand zu geben und ihm ihr Beileid auszusprechen, nach bekannten Gesichtern absuchte.
    Er erkannte die Witwe Douglas, eine wohlhabende Dame Anfang sechzig; ihr Mann war Friedensrichter gewesen und hatte ihr das Anwesen auf dem Cardiff Hill hinterlassen. Hinter ihr kam Rechtsanwalt Riverson, immer noch schlank, aber inzwischen mit grauen Schläfen, und Tom glaubte in dem blonden Mann neben ihm, einem Herrn im feinen dunklen Cut, Willie Mufferson zu erkennen, den einstigen Musterknaben der Schule. So unterwürfig, wie er neben Riverson hertrottete, war er bestimmt bei dem Anwalt in die Lehre gegangen.
    Tom staunte, als er seinen alten Lehrer wiedererkannte: Mr Dobbins. Dobbins musste inzwischen Mitte fünfzig sein, doch er hatte rote Wangen und wirkte jugendlich und kräftig, so als würde er körperlich arbeiten und nicht seit dreißig Jahren hinter dem Katheder stehen, um ungezogenen Bengels wie ihm ein wenig lesen und schreiben beizubringen und ihnen die Bibel einzutrichtern. Doch dann erkannte Tom plötzlich, dass Dobbins’ dunkelhaarige Perücke, die er schon früher getragen hatte, zu einem guten Teil dafür verantwortlich sein mochte, dass er ihn so unverändert fand.
    Tom ließ den Blick schweifen. Hinter Dobbins glaubte er Susie Harper und ihre Mutter Sereny zu erkennen. Susie war füllig geworden, oder war sie vielleicht schwanger? Sereny weinte. Sie und Tante Polly waren immer gute Freundinnen gewesen. Aber wo steckte Joe, Susies Bruder und sein Jugendfreund, mit dem er und Huck Finn einst Jackson Island erobert hatten? War Joe im Krieg gefallen, oder hatte er St. Petersburg inzwischen verlassen?
    Als ein hochgewachsener älterer Herr Sid gemessen die Hand schüttelte und ihm leise und eindringlich sein Beileid aussprach, geriet der Zug der Trauernden ins Stocken. Tom erkannte die markante Nase und die hohen Schläfen von Richter Thatcher, einer Respektsperson seiner Kindheit und der Vater seiner Jugendliebe Becky. Der Richter drückte Sid noch einmal mitfühlend die Schulter, trat dann endlich beiseite, setzte seinen Zylinder auf und ging in den Schatten einer Ulme, wo eine schlanke Frau in einem schwarzen Seidenkleid auf ihn wartete.
    Heufalter umschwirrten ihren kleinen Seidenhut, unter dem blondes Haar hervorblitzte. Äste verwehrten Tom den Blick auf ihr Gesicht, doch als er sah, wie sie die Hand von Richter Thatcher ergriff und wie sie mit der anderen Hand einen Schmetterling von ihrem Hut verscheuchte, schlug sein Herz einen Moment lang schneller.
    Becky.
    Rebecca Thatcher, das Mädchen, in das er mit zwölf Jahren unsterblich verliebt gewesen war. Mit der er sich gezankt und die er geküsst hatte, mit der er sich in der McDouglas-Höhle hinter dem Cardiff Hill verirrt und die er nach Tagen dort wieder herausgeführt hatte. Rebecca, die Jahre später, als Tom und sie sich unzählige Male getrennt und wieder versöhnt hatten, endgültig mit ihm brach, weil sie nie verstanden hatte, warum er aus St. Petersburg wegwollte. Die ihn deswegen einen gottverdammten Idioten genannt und ihm zum Abschied eine runtergehauen hatte. Die nie wieder etwas von ihm hören wollte und deren Wunsch in den letzten zehn Jahren, seit Tom St. Petersburg verlassen hatte, in Erfüllung gegangen war. Jetzt aber würde er mit ihr sprechen müssen. Er konnte nicht hierherkommen, ohne mit ihr zu reden. Doch zunächst würde er mit Sid sprechen müssen. Jetzt gleich.
    Der Trauerzug war vorüber, die Trauergemeinde verließ den Friedhof, und die zerfledderten Unionssoldaten schwangen ihre verbeulten Instrumente auf den Rücken und teilten sich die Münzen, die Sid ihnen in die Hand drückte. Tom ging auf Sid zu. Er straffte sich, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und legte sich die Worte zurecht, als ein breitschultriger Mann mit schulterlangen Haaren unter einem
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