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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Autoren: Simon X. Rost
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für eine Extraaufgabe gemeldet. Und wenn Tom dann mit zerrissener Hose heimgekommen war, hatte Sid mit gewaschenen Händen und gekämmten Haaren beim Abendbrot gesessen und ihn schon bei Tante Polly verpetzt.
    Trotzdem freute Tom sich, Sid zu sehen. Und auf Huck freute er sich auch – falls der noch in St. Petersburg war. Vielleicht würde ihm ja St. Petersburg den Schlaf schenken, den er so dringend brauchte.
    Tom ging in seine enge Kabine und packte seine Sachen zusammen. Das schmale Bett war unbenutzt. Er spülte sich den Mund mit Backnatron und Whiskey aus und warf einen kurzen Blick in den Spiegel über der Waschschüssel. Seine Haut spannte sich über die Wangenknochen, und der Anblick des rasierten Kinns ließ ihn wieder zusammenzucken. Vor drei Tagen noch hatte er einen Bart bis zum obersten Hemdknopf getragen. Er fuhr sich mit den Fingern durch die langen dunklen welligen Haare. An den Schläfen hatten sich silbrige Fäden daruntergemischt. Kein Wunder, nach allem, was passiert war.
    Garrets Farm. Die Schüsse. Booth.
    Bleiben Sie gut, Thomas. Bleiben Sie gerecht.
    Tom hörte die Stimmen und die Schritte der anderen Passagiere auf der Treppe zum Oberdeck. Dann ertönte die Glocke. Ohne sich noch einmal umzuschauen, nahm er seinen Koffer und trat zu den anderen auf das Deck.
    Der Dampfer überholte gerade einen Verband aus Flößen, der Baumstämme in den Süden transportierte. Die sonnengegerbten Flößer winkten freundlich, saßen um einen Topf Muschelsuppe und sogen an ihren Maiskolbenpfeifen.
    Zuerst erkannte Tom Jackson Island, wo er als Kind mit Huck Finn und Joe Harper einige Tage als Ausreißer verbracht hatte, dann tauchte St. Petersburg hinter den Bäumen am Missouri-Ufer auf. Weit vor der Anlegestelle waren die verfallenen Dächer des alten Schlachthofs zu sehen. Tom entdeckte den Kirchturm und das Dach der Sonntagsschule, und ein Gefühl von Wehmut fuhr ihm durch die Brust. Hinter der Stadt erhob sich der Cardiff Hill, und nun konnte er auch die Villa der Witwe Douglas zwischen Sumachbüschen als weißen Bau mit Säulen ausmachen.
    Ein bisschen wie das Weiße Haus …
    Schnell verscheuchte Tom den Gedanken. Stattdessen blickte er zu den beiden hohen gezackten Schornsteinen, aus denen jetzt dichte schwarze Rauchwolken hervorquollen. Eine billige Pracht, die die Mannschaft kurz vor der Ankunft in einer Stadt mit ein paar Kloben Pechtanne erzeugte. Der Kapitän, ein stattlicher weißhaariger Mann, trat unter das Sternenbanner, das am Göschstock flatterte, hakte seine Daumen in die Uniformjacke und ließ seinen Blick über die Menschenmenge auf dem Oberdeck schweifen, als wäre er ein Admiral und sie seine siegreichen Kadetten.
    »Zwei Faden!«, tönte der Ruf des Lotsen über das Deck, dann schoss zischend der Dampf durch die Ventile, der Kapitän hob die Hand, und die Räder griffen rückwärts aus und butterten das Wasser zu Schaum. Am Bug wurde die breite Landebrücke weit nach Backbord hinausgeschoben, an deren Ende bereits ein junger Matrose mit einer Rolle Tau in der Hand bereitstand.
    An der Anlegestelle warteten Händler, Packer und neue Passagiere auf die Ankunft des Dampfers. Ein schwarzer Lastenträger führte die Hände zum Mund, formte einen Trichter und ließ einen Schrei gellen: »Dampfboot kommt!«
    Das Tau wurde an Land geworfen. Dann lag der Dampfer ruhig im Wasser.
    Tom ging von Bord. Außer ihm trug kaum jemand einen Koffer; die Handvoll Passagiere, die die Excelsior mit ihm verließen, waren hier, um einen Ausflug zu machen, etwas einzukaufen oder um auf einen Drink in einen Saloon zu gehen. Offenbar hatte niemand vor, länger in St. Petersburg zu bleiben. Niemand außer ihm.
    Er blieb einen Augenblick auf dem Anleger stehen und beschirmte mit der Hand die Augen gegen die gleißende Sonne. Die Hauptstraße schien wie ausgestorben. Die Straßen und Bürgersteige waren verlassen, nur ein Hund mit fleckigem Fell saß mitten auf der Straße und leckte sich die Pfoten. In der Außenwand des Mietstalls konnte man Einschusslöcher erkennen. Es roch nach Fisch und nach den säuerlichen Dämpfen der neuen Gerberei, die man direkt am Anleger gebaut hatte.
    Plötzlich spürte Tom, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte.
    »Tom? Thomas Sawyer?«
    Tom drehte sich um. Ein breites schwarzes Gesicht mit strahlend weißen Zähnen und einem grauen Bart sah ihn entgeistert an. Der kräftige Mann setzte einen Käfig mit aufgeregt gackernden Hühnern ab und strich sich mit einem
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