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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Autoren: Simon X. Rost
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buschigen schwarzen Schnurrbart ihm in den Weg trat.
    »Tom? Tom Sawyer?«
    »Ja, Sir.« Toms Blick fiel auf den schimmernden Messingstern an der Weste des Mannes. »Was kann ich für Sie tun, Sheriff?«
    Der Sheriff zog an der Krempe seines breiten schneeweißen Boss of the Plaines- Hutes und hakte dann die Daumen in die Armlöcher seiner Weste. »Tut mir schrecklich leid, das Ganze, Tom. Es ist furchtbar, was mit deiner Tante passiert ist.«
    Tom kniff die Augen zusammen. Wer war das bloß? Er dachte sich den Schnurrbart weg, und plötzlich stand ein kleiner schmaler Junge mit aufgeschürften Knien, dreckverschmiertem Gesicht und einer ungezähmten schwarzen Mähne vor ihm. »Joe? Joe Harper? Du bist der Sheriff hier?«
    Joe nickte betroffen, als wäre das eine schwere Anschuldigung. »Wie ich schon sagte, Tom: Das Ganze ist furchtbar. Ich hab seit vorgestern kein Auge zugetan. Ich hab mit Jim Hollis und Billy Fisher nur zwei Männer, und, na ja, du kennst Billy ja, er ist nicht der Hellste, aber … aber ich verspreche dir, wir besorgen uns mehr Männer, und dann fassen wir den Dreckskerl.«
    Tom schüttelte langsam den Kopf. »Wovon zum Teufel redest du, Joe?«
    Joe spuckte aus. »Huck Finn wird dafür büßen, Tom. Der Hurensohn wird in der Hölle schmoren, dafür, dass er deine Tante ermordet hat.«
    ~~~
    Der Herr ist mein Hirte …
    Toms Blick ruhte auf dem gestickten Bibelvers in einem aus Zigarrenschachteln gebastelten Rahmen, der über der Hintertür hing.
    The Lord is my Shepherd,
    I shall not want;
    He makes me lie down in green pastures.
    He leads me beside still waters;
    He restores my soul.
    He leads me in paths of righteousness
    For His name’s sake.
    Psalm 23
    Ihr Hirte hatte Tante Polly nicht geholfen. Er hatte sie heimgeführt. Tom wandte die Augen von dem Bibelvers ab und schüttelte den Kopf, als er die fragenden Blicke von Sid und Joe Harper auf sich bemerkte.
    »Das kann nicht sein, Siddy. Das ist unmöglich.«
    »So wahr mir Gott helfe, Tom. Es ist die bittere Wahrheit.«
    Tom starrte auf die Holzdielen der Stube, wo man noch dumpf und braun die Blutflecken sah, die das Mädchen wohl auch mit viel Scheuern nicht wegbekommen hatte. Er saß am Esstisch in Tante Pollys Haus in der Hooper Street. Dem Haus, in dem er gemeinsam mit Sid aufgewachsen war, nachdem seine Eltern gestorben waren.
    Im Erdgeschoss gab es neben der Küche und der Speisekammer nur einen einzigen Raum, der wie früher gleichzeitig als Schlafzimmer, Frühstückszimmer, Speisezimmer und Bibliothek diente. Das Holz der Wände war im Laufe der Jahrzehnte dunkel geworden, Gestecke aus Trockenblumen hingen neben Stickereien und weiteren Bibelversen. Auf dem Sofa mit dem verblichenen hellblauen Bezug lagen viereckige Flicken aus alten Hemden und Hosen säuberlich übereinandergestapelt, so als hätte Tante Polly eben erst mit einer neuen Steppdecke beginnen wollen. Eine Außentreppe führte zu den Räumen im oberen Stockwerk, wo damals Toms und Sids Kinderzimmer gewesen war. Draußen vor dem Fenster schnüffelte eine Sau mit ihren Ferkeln den Bürgersteig entlang und labte sich an Melonenabfällen.
    »Es stimmt, Tom. Ich habe ihn selbst gesehen, deinen Huck.« Sid stand an den Schrank gelehnt, in dem das Porzellan für die Feiertage aufbewahrt wurde, und schob betrübt die Unterlippe vor.
    Deinen Huck? Tom war noch keine Stunde in der Stadt und verspürte schon jetzt den brennenden Wunsch, seinem Halbbruder eine Ohrfeige zu verpassen. Manche Dinge änderten sich eben nie. Er sah sich langsam um und entdeckte im Holz des Schrankes die Kerben, die er einst mit seinem Barlow-Messer hineingeritzt hatte. Das Messer hatte ihm seine Cousine Mary geschenkt, und es war zwölfeinhalb Cent wert gewesen.
    Zwölfeinhalb Cent, zwölfeinhalb Cent …
    Tom schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. Warum fiel ihm das jetzt ein? Er fühlte sich wie gerädert, war benommen vom Schlafmangel, von der Reise und von den erschütternden Neuigkeiten, und ihm ging auf, dass er seit dem Morgen nichts gegessen hatte. In der Stube war es unerträglich heiß, und Tom nahm einen großen Schluck Eistee aus dem Glas vor sich, bevor er sich an seinen Bruder wandte. »Tut mir leid, Siddy, ich kapier’s einfach nicht. Vielleicht erzählt ihr beide, du und Joe, mir einfach noch einmal, was hier los war, damit ich nicht dumm sterbe.«
    Sid warf dem Sheriff, der an der Hintertür lehnte, einen schnellen Blick zu, und Tom bemerkte, wie Joe Harper die Augenbrauen
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