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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Autoren: Simon X. Rost
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oder später konnte sich niemand, der ihn kennenlernte, seiner Tiefe, seiner Weisheit und seiner Leidenschaft für die gerechte Sache entziehen. Tom zumindest konnte es nicht. Für einen wie ihn, der ohne Vater aufgewachsen war, gab es beileibe schlechtere Vorbilder als Lincoln, der in einer armseligen Blockhütte in Kentucky geboren worden war und durch harte Arbeit zum Präsidenten der Vereinigten Staaten aufstieg. Und der durch einen Derringer Philadelphia in der Hand von John Wilkes Booth getötet wurde.
    Dieser Mann darf nicht entkommen.
    Oh nein, Sir. Das wird er nicht.
    Und er war auch nicht entkommen.
    Tom hatte gedacht, der Tod von Booth würde ihm den Schlaf zurückbringen. Aber er hatte sich getäuscht. Auch die Kapitulation der letzten konföderierten Truppen bei Fort Towsen im Indianergebiet brachte ihm die ersehnte Ruhe nicht zurück. Genauso wenig wie die Hinrichtung der vier anderen Verschwörer. Obwohl Mary Surratt, Lewis Powell, David Herold und George Atzerodt vor drei Tagen im Innenhof von Fort McNair aufgeknüpft worden waren, hatte Tom in der Nacht wach gelegen.
    So hatte er, als Sids Telegramm ihn erreichte, nicht gezögert, die Gelegenheit zu ergreifen, um so viele Meilen wie möglich zwischen sich und Washington zu bringen. Obwohl man ihn gebeten hatte zu bleiben.
    Andrew Johnson, bis zu jenem Karfreitag Vizepräsident, wurde noch am 15. April als neuer Präsident vereidigt, und die Metropolitan Police hatte Tom angeboten, er solle für Johnson das tun, was er für Lincoln getan hatte. Tom überlegte noch, ob er das Angebot annehmen sollte. Es war ein großzügiges Angebot, und bisher hatte niemand ihm die Schuld an Lincolns Tod gegeben. Noch nicht.
    Tom vermutete jedoch, es würde nicht lange dauern, bis man vergessen hätte, dass er an jenem verhängnisvollen Abend gar nicht Dienst gehabt hatte und aus freien Stücken im Ford’s Theatre geblieben war. John F. Parker, der dickliche Polizist der Metropolitan Police, war drei Stunden zu spät gekommen, um Tom bei seiner Schicht abzulösen. Parker war ein unzuverlässiger Säufer, und da Tom sein Rendezvous an diesem Abend durch Parkers Schuld ohnehin versetzt hatte und Parker sichtlich angetrunken war, als er im Ford’s Theatre ankam, beschloss Tom zu bleiben, um den Heimweg des Präsidenten zu sichern. Er hätte nicht gedacht, dass es zu einem Anschlag im Theater kommen würde. Er hätte nicht gedacht, dass Parker so faul und so dreist wäre, nach einer kurzen Stippvisite in der Präsidentenloge schnurstracks in den »Star Saloon« nebenan zu gehen, um seinen Rausch aufzuwärmen.
    Er hätte es nicht gedacht. Und doch war es so gekommen.
    Irgendwann, da war sich Tom sicher, würde man ihn dafür verantwortlich machen, dass er den Präsidenten nicht geschützt hatte. Ganz einfach, weil er da gewesen war. Und Parker, der da sein sollte, würde nicht zur Rechenschaft gezogen werden, weil er eben nicht da gewesen war. So dachten die Menschen in Washington nun mal. Und im ganzen Rest der Welt auch, vermutete Tom.
    Er wühlte in den Taschen seines Gehrocks und zog zwischen einem Taschenmesser, einem Stück Schnur, ein paar Münzen und einem Talisman, auf dem Sankt Christophorus mit dem Kinde abgebildet war, das Telegramm hervor, das sein Halbbruder ihm geschickt hatte.
    HEIRATE IN ZWEI WOCHEN +++ STOP +++ FREUE MICH, WENN DU KOMMST +++ STOP +++ IN LIEBE, SIDNEY
    Die Nachricht hatte ihn vor acht Tagen in Washington erreicht. Tom sah es als ein Zeichen dafür an, seine Zelte in der Hauptstadt abzubrechen und St. Petersburg einen Besuch abzustatten. Tante Polly, bei der er gemeinsam mit Sid aufgewachsen war, würde ihn bestimmt kaum wiedererkennen, so ausgezehrt und von der Sonne verbrannt, wie er war. Er hatte seine Familie zum letzten Mal vor dem Krieg gesehen. Zehn Jahre war das jetzt bald her.
    Tante Polly war bestimmt schon in heller Aufregung wegen der anstehenden Hochzeit. Die energische Frau würde für ihren kleinen Siddy alles organisieren – von der Sitzordnung über das Buffet bis zum Kleid ihrer künftigen Schwiegertochter. Welches Mädchen wohl dumm genug war, Sid Sawyer zu heiraten? Bestimmt irgendeine langweilige, hochnäsige Kuh.
    Tom runzelte die Stirn und stopfte das Telegramm wieder in seine Rocktasche. Er hielt nicht allzu viel von seinem Bruder. Wenn er früher mit seinem Freund Huck Finn die Schule geschwänzt hatte, um schwimmen und angeln zu gehen, hatte Sid brav in der Bank bei ihrem Lehrer Mr Dobbins gesessen und sich
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