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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Autoren: Simon X. Rost
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und schlug der Länge nach hin. Der Rotschimmel und der Braune, die vor dem Saloon angeleint waren, blickten kurz auf, dann senkten sie den Kopf wieder in den Wassertrog vor sich.
    »Dale!« Jeb sprang zu seinem Kameraden, kniete neben ihm nieder und tätschelte ihm die Wange. »Dale, sag doch was!«
    Doch Dale blieb am Boden. Er schlief.
    Tom atmete tief durch und blieb erschöpft liegen. Er blickte nach oben und sah die Rockschöße einer Frau.
    »Glotzt du mir unter den Rock, oder was soll das werden, Thomas Sawyer? Puh, und du stinkst wie ein Whiskeyfass!« Die Frau fächelte sich mit der Hand Luft zu.
    Becky.
    ~~~
    »Pass auf, dass du nichts umwirfst. Hier ist ein furchtbares Durcheinander, ich weiß. Aber ich bin erst seit acht Wochen hier drin und bin noch nicht dazu gekommen, aufzuräumen. Nimmst du Zucker?«
    Tom setzte sich vorsichtig auf einen klapprigen Hocker neben der Druckmaschine. Um ihn herum waren bis zur Zimmerdecke alte Zeitungen gestapelt. Sie lagen auf dem Fußboden und auf den Tischen des Redaktionsbüros, sie hingen noch druckfrisch über Wäscheleinen, die quer durch den Raum gespannt waren. Gerahmte Sonderausgaben zierten die Wände, und zusammengeknüllte alte Ausgaben steckten in den Ritzen zwischen den Wandbrettern, um den Wind abzuhalten. Er saß in einem Meer aus Buchstaben.
    »Hat der Kerl aus dem Saloon dir auch die Zunge rausgerissen? Ob du Zucker haben willst, hab ich gefragt.«
    »Nein, keinen Zucker, danke.«
    Tom nahm die Tasse entgegen, die Becky ihm hinhielt. Der Geruch der Bohnen mischte sich mit dem von frischer Druckerschwärze, der im Raum hing wie ein schweres Parfüm. Toms Kiefer schmerzte, seine Kehle brannte wie Feuer. Er fühlte sich, als wäre er in die massive Druckerpresse geraten, neben der er saß. Die schweren gusseisernen Platten der schwarz und rot lackierten Maschine wurden durch einen klobigen Hebel aufeinandergepresst; auf einer Seite der Setzkasten mit den Bleilettern, auf der anderen Seite der Papierbogen.
    »Das ist ’ne Boston-Presse von J. Golding«, sagte Becky, als sie seinen Blick bemerkte. »Nicht gerade das neueste Modell, schwergängig, und hier drin ist es oft so heiß und feucht, dass die Farbwalzen mit den Laufrollen nicht übereinstimmen, und dann entsteht Walzenschmitz. Trotzdem ist das Ding noch das Beste an dieser ganzen Zeitung.« Sie seufzte und deutete mit einer vagen Handbewegung in das Zeitungsmeer, in dessen Mitte sie stand. Einen Moment zuvor hatte Becky den kleinen schwarzen Seidenhut abgesetzt, den sie bei der Beerdigung getragen hatte. Sie hatte eine Nadel aus den Haaren gezogen und dann den Kopf geschüttelt, und Tom war noch immer wie gefangen vom Anblick ihrer blonden welligen Haare, die sich über ihre Schultern ergossen hatten wie ein goldener Wasserfall.
    Er schüttelte den Kopf. »Ich … Ich versteh kein Wort. Du bist was? Du … arbeitest hier? Bei dieser Zeitung?«
    Becky grinste. »Ich bin die Zeitung, Tom. Ich bin der St. Petersburg Chronicle . Papa hat mir ein bisschen Geld geliehen, damit ich das hier machen kann. George Cruickshank, der den Chronicle davor hatte, ist an Weihnachten mit einem Ruderboot auf die Illinois-Seite gerudert, um den Heiligen Abend in der Fährschänke mit den Flößern zu verbringen statt mit seiner Frau. Dann ist ein Gewitter aufgezogen, und als er stockbetrunken zurückgerudert ist, ist das Boot gekentert, und George ist ertrunken. Die Trauer seiner Witwe hat sich in Grenzen gehalten. Sie war mehr als froh, als ich ihr den Schuppen hier, die Presse und den Namen der Zeitung abgekauft habe.«
    Tom nickte beeindruckt. Er konnte sich kaum vorstellen, wie Becky, die schlank, fast zierlich war, dieses Ungetüm von Druckerpresse bediente. »Also bist du die Besitzerin, Becky? Respekt.«
    Becky verschränkte die Arme vor der Brust. »Nenn mich nicht Becky. So nennt mich keiner mehr. Mein Name ist Rebecca. Becky war das kleine verzogene, pausbäckige Mädchen.«
    Tom nickte. »Gut, dann also Rebecca. Und wer schreibt für dich diese …« Er beschrieb mit der Hand einen Bogen über die unzähligen Blätter, die um ihn herum hingen, gestapelt waren und zu seinen Füßen lagen.
    »Ich. Ich schreibe die Artikel, Tom. Für mehr Mitarbeiter reicht der Absatz des Chronicle leider nicht. Papa hat mir prophezeit, dass ich keine drei Monate durchhalte, und ich bin wild entschlossen, ihm das Gegenteil zu beweisen. Deswegen mache ich auch die Fotografien und schicke sie zum Kupferstecher nach Palmyra,
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