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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte
Autoren: Ralf Isau
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In der DDR? Das bezweifle ich. Und in den Buchläden unserer sozialistischen Bruderstaaten werden Sie bestimmt auch nichts über das Gespann gefunden haben. Oder lesen Sie etwa die Schriften des Klassenfeinds?« Gomleks Stimme wurde hart. »Machen Sie mir nichts vor, Herr Labin. Sie wissen mehr, als Sie zugeben wollen. Ist Ihre Familie im Besitz dieser Schachtel, die Beales Freund Jacob Rosewood in Empfang genommen hat?«
    »Nein, verdammt noch mal! Sie unterstellen uns da etwas…«
    Roberts Kopf wackelte wie bei einem Betrunkenen hin und her. »Wir haben weder diese Schachtel noch die erwähnten Papiere jemals gesehen. Wäre es anders, wieso sollten wir dann in der Registratur nach weiteren Spuren zu diesem mysteriösen Dokument suchen?«
    »Vielleicht, weil Beales Vermächtnis verschlüsselt ist und Sie es nicht entziffern können?«
    »Aber das ist nicht wahr.«
    »Ein guter Spieler überblickt stets mehrere Züge seines Gegners im Voraus, Herr Labin. Als dieser Vollidiot von Pressesprecher heute ohne Ermächtigung den Wegfall sämtlicher Reisebeschränkungen verkündete, war mir klar, dass ich sofort handeln musste, damit Sie mir nicht entwischen…«
    »Sie sind wahnsinnig!«, schrie Robert dazwischen.
    Tim trat der kalte Schweiß auf die Stirn, und sein Herz fing an zu rasen.
    Gomlek blieb scheinbar gelassen. Bedächtig nahm er dem Bärtigen eine der Wodkaflaschen aus der Hand – und zerschlug sie blitzschnell auf dem Kochherd. Der Inhalt spritzte über den Boden. Mit dem zersplitterten Rest in der Hand näherte er sich langsam Tims Mutter.
    »Sind Sie bereit, für den Sieg Ihre Dame zu opfern, Labin?«
    »Bitte!«, bettelte Robert. »Lassen Sie Hanna in Ruhe. Dieses Papier ist uralt. Vielleicht existiert Beales Schachtel überhaupt nicht mehr. Ich würde Ihnen alles geben, um meine Familie zu schützen, aber ich habe nichts.«
    »Kannst du mir Feuer geben, Casim?«, wandte sich Gomlek seinem Henkersknecht zu.
    Der Schnurrbärtige zog eine Streichholzschachtel aus der Tasche und strich ein Zündholz an. Auf Gomleks Wink warf er es in die Wodkapfütze unter dem Herd. Tim vernahm ein leises Fauchen. Blaue Flammen züngelten über den Boden.
    Gomlek verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln.
    »Tempus fugit, sagt der Lateiner – ›Zeit fliegt‹ –, und die Ihre ist gerade verflogen.« Noch immer stand er vor Hanna, den Flaschenhals fest umklammernd.
    »Bitte!«, schluchzte Robert. »Was immer Sie von uns wollen, wir haben es nicht.«
    Versonnen starrte Gomlek auf das beschichtete Tischtuch, das zuvor auf den Boden gefallen war. Qualmwolken stiegen davon auf. Er schüttelte traurig den Kopf. »Wirklich zu schade, Herr Labin. Es ist nicht allein die magere Ausbeute unseres Besuchs hier, die mich bekümmert, sondern mehr noch Ihr völlig nutzloses Leiden.«
    »Wenn Sie nur bitte endlich gehen!«
    »Sie haben mir also nichts mehr mitzuteilen?«
    »Verdammt noch mal, nein!«, brüllte Robert aus voller Kehle.
    Starr vor Angst klebte Tim an der Tür und wünschte, dies alles sei nur ein grausamer Traum. Sämtliche Muskeln in seinem Körper waren hart wie Stein; nur seine Lungen pumpten den Sauerstoff immer schneller ins Blut.
    Gomlek seufzte. »Dann sagen Sie Ihrer Frau Lebewohl.« Er nickte seinem zweiten Helfer zu.
    Der Mann trat hinter Hanna, krallte seine Finger in ihren dunklen Haarschopf und riss ihren Kopf brutal zurück.
    Eine kleine Ewigkeit lang betrachtete Gomlek teilnahmslos die ihm dargebotene Kehle. Dann holte er bedächtig mit seinem Scherbendolch aus.
    In diesem Moment durchlief Tim ein nur allzu bekanntes Gefühl – meistens kündigte sich so ein epileptischer Anfall an.
    Ein, zwei Sekunden lang war ihm, als stürze er in einen tiefschwarzen Abgrund. Dann versagten ihm Arme und Beine den Dienst, und während er wie aus weiter Ferne den Schrei seines Vaters hörte, sackte er zu Boden und versank in Finsternis.

    Als Tim wieder zu sich kam, tat ihm die Zunge weh. Er schmeckte Blut. Um ihn herum war es laut. In seinen Ohren dröhnte ein unerklärliches Fauchen. Benommen sah er sich um. War er in der Speisekammer? Seltsam. Hatte er etwa wieder einen Anfall gehabt?
    Die Luft in dem kleinen Raum war so heiß, als käme sie aus einem Föhn. Tim verspürte den unbändigen Drang davonzulaufen. Irgendwohin. Doch er war offenbar in einem Albtraum gefangen, aus dem es keinen Ausgang gab. Als er den Kopf hob, bemerkte er die gleißenden Ritzen in der Tür.
    Allmählich kehrte sein Geist in die Wirklichkeit
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