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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte
Autoren: Ralf Isau
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Telefonat, jedes Fax und jede E-Mail verleibte er sich ein – weltweit. In seinem kilometerlangen »Gedärm« wurde diese oft unverdauliche Kost aufgeschlüsselt: in einen großen Batzen Abfallstoffe und die wenigen nützlichen Bestandteile, die ihn weiter wachsen ließen. Der monströse Verdauungstrakt beschäftigte an die vierzigtausend Bakterien – die NSA bevorzugte allerdings die Bezeichnung »Mitarbeiter«. Den Stoffwechsel des Moloch in Gang zu halten galt als Privileg, das gemeinhin mit einem sicheren Job und guter Bezahlung assoziiert wurde. Da nun aber der Appetit des Riesen unersättlich war, suchte er ständig neue begabte Mathematiker, Linguisten und Informatiker.
    Letztere gehörten einer ganz besonderen Spezies an, der man bisweilen geradezu mystische Fähigkeiten nachsagte: Sie vermochten Maschinen Leben einzuhauchen. Nach Ansicht vieler spielten sie damit in derselben Liga wie Zeus oder Zarathustra. Und zu den weltweit führenden Zauberschulen für den Götternachwuchs zählte das MIT, genauer gesagt, das Computer Science and Artificial Intelligence Laboratory, kurz CSAIL.
    Wie schräg einige Köpfe an diesem »Laboratorium für Informatik und Künstliche Intelligenz« zu denken fähig waren, dokumentierte recht anschaulich der Gebäudekomplex, in dem es untergebracht war. Das Ray and Maria Stata Center, in dessen vierstöckigen Sockelbau JJ soeben ihren Mentor geführt hatte, wirkte ein wenig, als sei es eine Manifestierung von Ballantines bizarrem Traum aus Alfred Hitchcocks Film Ich kämpfe um dich. Mit seinen schrägen Fassaden vermittelte der Komplex den Eindruck der Unfertigkeit, so, als seien große Spielkarten flüchtig aufeinandergestapelt, um beim nächsten Windhauch wieder zusammenzustürzen. Immerhin hatte das Stata diesen Zustand jetzt schon mehr als zwei Jahre überdauert. Damit symbolisierte es treffender als jeder Slogan das Credo der Menschen, die hier lernten und arbeiteten: Nichts ist statisch, alles kann sich verändern, nur der Wandel bleibt uns ewig erhalten.
    Obwohl also Abwechslung am CSAIL Pflicht war, entbehrte der Auftritt des »Stargasts« nicht einer gewissen Exotik. Karim Al Massari – JJs am MIT studierender Freund – hatte die Erwartungshaltung im Vorfeld der Veranstaltung hochgeschraubt. Kogan sei blind, hatte er seine Kommilitonen wissen lassen, und seine achtundzwanzig Jahre junge Begleiterin eine Traumfrau wie aus Tausendundeiner Nacht.
    Während JJ den Redner zum Katheder geleitete, schweifte ihr Blick durchs Publikum. Überwiegend Männer. Oder zumindest Milchbärte, deren lässige Körperhaltung verriet, wie ungemein männlich sie sich fühlten. Bis jetzt verlief also alles nach Plan.
    Der hungrige Schwarm stierte den Köder an. Es störte sie nicht, von Kogan vor allem als Blickfang mitgenommen worden zu sein, solange ihre übrigen Qualitäten bei ihm im Vordergrund standen. Und das musste man Emil Kogan lassen: Obwohl er ein Meister der Täuschung war, achtete er bei seinen Mitarbeitern stets mehr auf den Inhalt als auf die Verpackung.
    Der Doktor aus Crypto City trug einen langen weißen Stock und eine schwarze Brille, welche sich perfekt an seine Gesichtsform anpasste. Auch sein dunkelgrauer Anzug war maßgefertigt. Kogan füllte ihn auf beeindruckende Weise aus.
    Im Veranstaltungshinweis hatten die Studenten lesen können, er sei Sechsundsechzig, doch in der Art und Weise, wie sich dieser stattliche Mann bewegte, wirkte er auf die meisten wohl eher zwanzig Jahre jünger. Da gab es kein Zittern, keinen gebeugten Rücken oder sonstige Anzeichen von Hinfälligkeit.
    Aufrecht trat er ans Pult – es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, seinen Vortrag sitzend zu halten. Sein weißes Haar war voll und für einen Mann dieses Alters erstaunlich lang.
    Als Repräsentantin einer dem US-Verteidigungsministerium unterstellten Behörde hatte JJ für den Auftritt im CSAIL ein konservatives Outfit gewählt: dunkelblaues Kostüm mit taillierter Jacke und eng geschnittenem Rock, der eine Handbreit über dem Knie endete; dazu eine weiße Bluse und eine Perlenkette, die besonders gut mit ihrem bronzefarbenen Teint harmonierte. Sie war eins fünfundsiebzig groß und schlank. Die figurbetonte Kleidung konnte sie sich also leisten, auch dank eines strengen Ernährungsplans und regelmäßigen Trainings in Thaing Byong Byan, einer burmesischen Kampfsportart. Ihre weit über die Schultern fallenden, dunkelbraunen, seidig glatten Haare trug sie offen. Vermutlich fragten sich die
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