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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte
Autoren: Ralf Isau
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Tim nicht geheuer. Mit einem Mal hörte er ein Klopfen von der Wohnungstür.
    »Herr und Frau Labin. Bitte, öffnen Sie sofort! Wir wissen, dass Sie zu Hause sind.«
    »Wir sind aufgeflogen«, jammerte Hanna.
    Robert schüttelte den Kopf. »Vielleicht werden wir bespitzelt, aber wir sind keine Feinde der Republik. Nicht mal Diebstahl kann man uns vorwerfen.«
    »Nein, aber wir haben etwas hinzugefügt. Sie werden sich einen feuchten Kehricht um unsere Absichten scheren. Für sie sind wir Saboteure. Sie bringen uns nach Bautzen und sperren uns weg. Oder wir werden hingerichtet…«
    Abermals pochte es. »Herr Labin, seien Sie doch vernünftig.
    Wenn Sie nicht öffnen, müssen wir die Tür aufbrechen«, drohte die Stimme von draußen.
    »Ich versuche sie hinzuhalten. Versteck du den Jungen.
    Sofort!«, zischte Robert.
    Allmählich bekam Tim Angst. Zwar hatte er seine Eltern in den letzten Wochen ab und zu beim Tuscheln erwischt, sich aber nichts weiter dabei gedacht. Erwachsene meinten ja ständig, sie müssten ihren Kindern etwas verschweigen, weil sie für die Wahrheit noch nicht reif genug seien.

    Seine Mutter packte ihn am Arm. »Komm, schnell!«, flüsterte sie und zog ihn auf den Flur hinaus, wohin schon der Vater vorausgeeilt war.
    »Sie haben uns geweckt. Was wollen Sie denn?«, rief Robert und täuschte ein Gähnen vor.
    »Versuchen Sie nicht, uns hinzuhalten, Labin. Wir haben Ihren Fernseher gehört.«
    »Sind Sie noch nie vor der Glotze eingeschlafen?«
    »Das sage ich Ihnen, sobald Sie uns geöffnet haben.
    Aufmachen!«, befahl die Stimme dieses Gomlek. Tim fand sie hinreichend einschüchternd, um sich den Mann als besonders gefährlichen Geheimagenten vorzustellen.
    Inzwischen war Hanna mit ihrem Sohn durch die nächste Tür geeilt – in die Küche. Neben dem Fenster lag die Speisekammer, ein besseres Versteck fand sich auf die Schnelle nicht. »Hinein mit dir und keinen Mucks!«, raunte sie und schob Tim in den engen Verschlag. »Wenn sie kommen, dann kriech unter die Plane in der Kartoffelkiste.«
    Ehe er sich’s versah, hatte sie die Tür schon wieder verschlossen. Tim hätte am liebsten laut losgeheult. Die von den Bildern fröhlicher Menschen heraufbeschworene friedliche Stimmung war einer kalten Furcht gewichen. Aufregung, Angst, heftiges Atmen, Dämmerlicht und Kälte – das alles war nicht gut für ihn. Es konnte einen epileptischen Anfall auslösen. Und dann wäre er allein, niemand könnte ihm helfen… Zitternd spähte er zwischen den verzogenen Holzfüllungen der Tür hindurch in die Küche. Mit einem Mal ging das Licht aus. Seine Mutter war in den Flur zurückgekehrt.
    Die Kammer verfügte über ein eigenes Fenster, eng zwar und mit einer Schicht weißer Farbe auf der Scheibe, aber wenigstens schimmerten die Straßenlaternen matt hindurch.
    Tim sah sich um. Er kauerte inmitten von Regalen voller Einweckgläser, Dosen und Äpfel. Ganz hinten stand die große Holzkiste mit den Kartoffeln. Als er die Plane zurückschlug, hörte er unvermittelt die aufgeregte Stimme des Vaters.
    »Was soll das? Wir haben nichts getan!«
    »In die Küche mit ihnen«, verlangte Gomlek.
    Die Ritzen in der Tür wurden erneut von gelbem Licht geflutet. Lautes Poltern und die Stimmen zweier anderer Männer drangen in die Kammer. Tims Angst wurde größer und größer, sein Zittern immer heftiger. Trotzdem zog es ihn wieder zu dem Spalt in der Tür. Dicht über dem Boden war er am breitesten und gewährte ein schmales Sichtfeld zwischen der Fensterwand und der karierten Wachstuchdecke auf dem Küchentisch. Niemand war zu sehen.
    »Wo ist Ihr Sohn?«, fragte Gomlek mit tiefer Stimme in fast akzentfreiem Deutsch.
    »Er übernachtet heute bei einem Freund«, log Robert.
    Tim war am Nachmittag tatsächlich bei seinem Schulfreund in der Oranienburger Straße gewesen. Weil beide Jungen im selben Karree wohnten, hatte er abends die Abkürzung über den begrünten Innenhof genommen und das Haus durch den Hintereingang betreten. Sollten die Agenten nur vorne, in der Krausnickstraße, Posten bezogen haben, konnten sie von seiner Heimkehr nichts wissen.
    Iwan Gomlek schien sich mit der Antwort zu begnügen. Er lief an der Vorratskammer vorbei und zog die Fenstervorhänge zu. Jetzt konnte Tim ihn von der Seite sehen, und er erschrak.
    Das Scheusal richtete eine Pistole auf seine Eltern, ein schwarzes Ding mit monströs langem Lauf. Der Mann mochte um die fünfzig sein, war ganz in Schwarz gekleidet, groß und so breit wie ein
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